Nach 505 Tagen haben sie ihr Lachen wieder. Die vier israelischen Geiseln Tal Shoham, Eliya Cohen, Omer Wenkert und Omer Shem Tov, die die Hamas am 7. Oktober 2023 verschleppte, sind in Freiheit! Außerdem kamen Avera Mengistu und Hisham al-Sayed nach mehr als zehn Jahren in Gaza wieder nach Hause. Beide Männer gelten als psychisch krank und hatten die Grenze zu der Enklave seinerzeit freiwillig überquert.
Gegen neun Uhr am Morgen wird der 40-jährige Tal Shoham, der aus Be’eri mit seiner kompletten Familie entführt wurde, in Rafah im Süden des Gazastreifens auf eine Bühne der Hamas geführt. Er trägt einen Trainingsanzug und wirkt sehr dünn, geht jedoch eigenständig die Stufen hinauf. Um ihn herum stehen vermummte Hamas-Männer mit Maschinengewehren, die ihm auftragen, in ein Mikrofon zu sprechen und zu winken. Die Worte werden von Israel nicht übertragen, weil sie als Hamas-Propaganda gewertet werden.
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Kurz darauf wird er zusammen mit Avera Mengistu zu einem Jeep des Internationalen Komitees des Roten Kreuzes (IKRK) geführt und anschließend an die israelische Armee übergeben. Tal ist in Freiheit! In der Militärbasis Re’im warten seine Frau Adi, die vierjährige Tochter Yahel, sein Sohn Naveh (9) sowie seine Eltern Gilad und Nitsa Korngold. Über ein Jahr und vier Monate lang hatten sie keinerlei Lebenszeichen von ihm erhalten.
Tal Shohams Kinder schreiben ihm einen Brief
Als sie vor einigen Tagen über die bevorstehende Freilassung informiert wurden, schrieben seine Kinder einen Brief. Darin stehen Fragen, die sie in der langen Zeit stellten. »Ist Papa alt, wenn er freikommt?« oder »Warum haben sie das getan?«. In der Mitte steht ein Satz in fetten Buchstaben: »Wann kommt Papa zurück?«
Zur selben Zeit sitzen andere Angehörige in einem Warteraum des Beilinson-Krankenhauses im Zentrum Israels und brechen in Freudentränen aus, als sie die ersten Bilder von Tal sehen. Der katarische Sender berichtet live aus Gaza. »Da ist er!«, ruft sein Schwager Yuval Haran und springt vom Sofa auf.
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Als er vom Helikopter in Richtung Krankenhaus Beilinson gefahren wird, lässt er den Wagen anhalten, winkt den Menschen zu, die an den Straßenrändern jubeln, und verteilt Luftküsse. An seiner Hand Naveh, dem die unbeschreibliche Freude über die Rückkehr seines Papas ins Kindergesicht geschrieben ist.
Gil Elias: »Die Freilassung von Avera ist ein wahrgewordener Traum.«
Im Haus von Avera Mengisto in Aschkelon hängt ein Plakat: »Es ist wundervoll, dass du nach Hause kommst.« Er sehe gut aus, sagt Gil Elias, ein Verwandter der heimkehrenden Geisel und langjähriger Aktivist für dessen Freilassung. »Es ist ein wahrgewordener Traum.« In Re’im warten sein Bruder Ilan und seine Schwester Alemneseh auf ihn und umarmen ihn fest.
Auch im Beduinendorf Hura haben sich die Menschen versammelt, um die Rückkehr von Hisham el-Sayed zu feiern. Die Familie hat an diesem kalten Wintertag heißen Tee für alle gekocht. Der 37-Jährige wird ohne Zeremonie an das Rote Kreuz übergeben. Yitzhak Abu Elkian, der Vorsitzende des Regionalrates Hura, betont bei dieser Gelegenheit, dass alle Geiseln zurückkommen müssen. »Wir sind an der Seite des gesamten israelischen Volkes – wir haben kein anderes Land.«
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Erst als alle Geiseln in Freiheit sind, werden im Gegenzug 602 palästinensische Gefangene aus israelischen Gefängnissen entlassen. Darunter sind Dutzende Männer, die zu lebenslangen Haftstrafen verurteilt waren.
Am selben Morgen gibt die Hamas eine Erklärung heraus: »Die Organisation ist dem Abkommen verpflichtet«, heißt es knapp. Offenbar hatte die Terrorgruppe Sorge, dass die Übergabe von Israel wegen des Dramas um die Leiche von Shiri Bibas verweigert würde.
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Leiche von Shiri Bibas wurde am Freitag nach Israel überführt
Am Donnerstag waren zwar entsprechend des Abkommens vier Särge mit Leichen aus Gaza nach Israel überführt worden, in einem waren die sterblichen Überreste von Oded Lifshitz, in zwei anderen die der Kleinkinder Ariel und Kfir Bibas, doch der vierte Sarg enthielt nicht die Leiche von ihrer Mutter Shiri. Stattdessen lag eine nicht bekannte Frau, keine Geisel, in dem Sarg. Am Freitag dann erhielt Israel erst vom IKRK die Nachricht, dass der Leichnam von Shiri an sie übergeben wurde. Nach der Identifizierung in Israel stand fest: Es ist Shiri. Alle Angehörigen der freigelassenen Geiseln teilen an diesem Samstag die Trauer der Bibas-Familie.
Der Kommentator Elior Levy erklät im Channel 11: »Die Hamas hat vorgeschlagen, dass sie alle verbleibenden Geiseln, insgesamt 63, auf einmal freilässt. Dafür verlangt sie, dass sich die Armee vollständig aus Gaza zurückzieht. Israel hingegen verlangt, dass die Terrororganisation entwaffnet wird.« Levy fügt hinzu: »Tatsache ist, dass wir keine Zeit mehr haben, dass dieses Fenster der Möglichkeit geöffnet ist und dass wir es nicht verstreichen lassen dürfen.«
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Omer Shem Tov, Omer Wenkert und Eliya Cohen sind alles junge Israelis, die am 7. Oktober auf dem Nova-Musikfestival tanzten, als Terroristen dort ein Blutbad anrichteten und mehr als 360 Menschen töteten. Sie alle sind auf den ersten Blick extrem dünn, aber gehen auf eigenen Beinen die Hamas-Bühne, die dieses Mal in Nusseirat aufgebaut ist, hinauf und wieder herunter. Im Hintergrund des zynischen Spektakels dröhnt laute Musik, riesige Palästinenserfahnen wurden gehisst. Und wieder müssen die jungen Männer olivgrüne Pseudouniformen tragen.
Die jungen Männer müssen fröhlich wirken und winken
Die jungen Männer müssen fröhlich wirken, ihre »Befreiungszertifikate« in die Kamera halten und winken. Omer Shem Tov reckt die Daumen in die Höhe und küsst sogar die zwei Wächter neben ihm auf die Stirn. Später erklärt sein Vater Malki Shem Tov im öffentlich-rechtlichen Sender Kan, dass die Hamas ihn dazu gezwungen habe und den Geiseln genau vorgegeben habe, wie sie sich zu benehmen haben.
Als die ersten Aufnahmen ihrer Kinder ausgestrahlt werden, brechen ihre Eltern, die sich in der Militäreinrichtung Re’im versammelt haben und das Geschehen auf den Bildschirmen verfolgen, in Jubel aus. Neben Momi und Sigi Cohen, den Eltern des 27-jährigen Eliya Cohen, sitzt Ziv Abud, seine Verlobte. Acht Jahre lang sind sie ein Paar. Doch Eliya weiß zu dieser Zeit noch nicht, dass sie noch lebt. Ziv hatte das Massaker der Hamas im sogenannten Todesbunker überlebt. Die Terroristen zogen Eliya heraus und kidnappten ihn.
Vor zwei Wochen befreite Geiseln berichteten, dass Eliya die ganze Zeit in einem Tunnel festgehalten wurde, dauerhaft angekettet. Und er wisse nicht, dass Ziv noch lebt. Doch dann weiß er es: fällt ihr in die Arme, fast ungläubig, und sagt: »Ich kann nicht glauben, dass du lebst.« Später, im Hubschrauber auf dem Weg ins Krankenhaus, lassen sich die beiden fotografieren. Ihre Hände sind zu einem Herz geformt. Mit einem Dank an alle, die sie beim Kampf für die Befreiung unterstützt haben.
Auch die anderen befreiten jungen Männer, Omer Shem Tov und Omer Wenkert, werden von ihren Eltern fest in die Arme geschlossen. Der 22-jährige Shem Tov strahlt über das ganze Gesicht, als er seine Eltern sieht: »Ich habe euch gesehen, wie ihr für mich gekämpft habt. Ihr seid Helden! Wie wundervoll, dass ihr meine Eltern seid.«
»Ich kann dieses Glücksgefühl, ihn so zu sehen, nicht beschreiben. Es ist das reinste Glück.«
Seine Tante Tal Shem Tov sagt später, »es ist unser Omer, der zurückgekommen ist. Er ist immer noch voller Lebensfreude. Ich kann dieses Glücksgefühl, ihn so zu sehen, nicht beschreiben. Es ist das reinste Glück«.
Auch die Eltern von Omer Wenkert, der unter der chronischen Krankheit Colitus Ulcerosa leidet, sind überwältigt, als sie ihren Sohn in die Arme schließen. Immer wieder sagen sie: »Du bist der Sieger!« Das fürchterliche Bild von Omer ging um die Welt, wie er am 7. Oktober auf der Ladefläche eines Pick-up-Trucks, gefesselt, blutend und in Unterhose, von Terroristen getreten und bespuckt wird.
Am Morgen hatten sich Freunde im Haus seiner Eltern in Gedera getroffen und getanzt, »so wie er es immer tat«. Am Abend rollten Fans des Fußballclubs Maccabi Netanya ein Banner beim Spiel im Stadion aus: »Omer Wenkert – wir warten auf dich in der Kurve!«
Am Abend schrieb der israelische Ministerpräsident Benjamin Netanjahu: »Ich feiere die Heimkehr von Eliya Cohen, Omer Shem Tov, Omer Wenkert, Tal Shoham, Avera Mengistu und Hisham al-Sayed. Das Herz platzt vor Aufregung, als wir die Familien umarmen. Ihre Rückkehr ist ein Moment der Freude und Erleichterung für ihre Familien und die gesamte Nation Israel.«
Ofer Shemesh, ein Freund von Tal Shoham, steht an diesem Morgen auf den Platz der Geiseln in Tel Aviv. Er trägt ein Sweatshirt mit dem Porträt der Geisel auf der Brust. »Wir sind alle so aufgeregt, es gibt kaum Worte für diese Gefühle. Wir sehen ihn am Leben. So muss sich eine Wiedergeburt anfühlen.« Dann erinnert auch er daran, dass man »alle Geiseln rausholen muss. Sie haben keine Zeit mehr.«
Adi Shoham, Tals Frau, drückt etwas später ihre Gefühle in den sozialen Netzwerken mit einer Strophe der berühmten israelischen Dichterin Leah Goldberg aus. »Jetzt kommst du mir nah«, zitiert sie. Dann fliegt Tal als freier Mann im Helikopter ins Krankenhaus zu ersten Untersuchungen. Neben ihm sitzt wieder Naveh. Beide haben Ohrenschützer auf. Und Tal hat in der Hand ein Schild. Darauf hat er nur einen Satz geschrieben: »Freiheit – es ist verrückt!«