Taschen, Tüten und Kisten stapeln sich hinter den Türen der Ben-Yehuda-Straße 126 in Tel Aviv. Auf einigen sind blau-gelbe Flaggen aufgemalt, daneben ein Herz. Auf anderen steht »Willkommen« auf Ukrainisch. Die Nord-Zentrum-Synagoge hat zu Spenden für die Geflüchteten aufgerufen, die sich vor der russischen Invasion nach Israel gerettet haben.
Man braucht vor allem Kleidung für Kinder und Frauen, Hygieneartikel und haltbare Lebensmittel – je mehr, desto besser. Hunderte von Tel Avivern folgten am Motzei Schabbat, also nach dem Ende des Schabbats, dem Aufruf und brachten ihre Spenden.
aufnahme Während die Israelis ihre Geldbeutel, ihre Häuser und Herzen für die vom Krieg vertriebenen Menschen öffnen, läuft die Politik zur Flüchtlingsaufnahme der Regierung in Jerusalem holprig an. Seit Innenministerin Ayelet Shaked von der rechten Partei Jamina in der vergangenen Woche bekannt gab, in welchem Rahmen die Aufnahme geschehen soll, wächst die Kritik aus dem In- und Ausland.
20.000 nichtjüdische Ukrainer seien bereits vor Ausbruch der Feindseligkeiten in Israel gewesen, weitere 5000 seien seit Beginn der Invasion aufgenommen worden, rechnete Shaked vor. Israel bereitet sich darauf vor, dass es bis zu 100.000 Neueinwanderer infolge des Konflikts geben könnte – sowohl aus der Ukraine als auch aus Russland. »Der Anblick des Krieges und das Leid der Menschen erschüttern die Seele und erlauben uns nicht, gleichgültig zu bleiben«, fügte Shaked hinzu.
Doch genau das wirft man ihr vor: mit Blick auf die Zahlen, die viele als »unzureichend« bezeichnen, und die anfängliche Forderung, dass Geflüchtete bei der Einreise umgerechnet etwa 2700 Euro hinterlegen müssen, um ihre Abreise sicherzustellen. Diaspora-Minister Nachman Shai hatte das Pfand als »unsinnig und unmenschlich« bezeichnet und in einem Brief an Premierminister Naftali Bennett gefordert, es umgehend aufzuheben. Dies geschah, doch da war der Imageschaden schon passiert.
Verpflegung Am Ende des Schabbats dann berichtete Kanal 12, dass Geflüchtete zum Teil stunden- oder sogar tagelang in der Ankunftshalle des Flughafens warten mussten, ohne ausreichende Verpflegung oder die Möglichkeit zu duschen. Ältere Frauen lagen auf dem Boden, Kinder schliefen auf Gepäckförderbändern. Dutzende Geflüchtete seien in einem Hotel untergebracht worden, es war ihnen untersagt, das Gebäude zu verlassen. 200 Menschen wurde die Einreise gänzlich untersagt.
Einwanderungsministerin Pnina Tamano-Shata nannte die Situation »inakzeptabel«. Sie habe Shaked darauf angesprochen und geraten, ihre Teams zu verstärken, damit es Nahrung, Wasser, Windeln und alles gibt, was die Geflüchteten brauchen. »Es ist beschämend und verursacht Chaos für uns in der Welt«, wurde Tamano-Shata zitiert.
»Der Staat Israel ist vor allem die Heimstätte des jüdischen Volkes.«
Innenministerin Ayelet Shaked
Shaked erklärte die Lage am Flughafen damit, dass viele Maschinen zeitgleich angekommen seien, und verteidigte ihre Politik, als Demonstranten vor dem Flughafen und ihrem Wohnhaus dagegen protestierten. Sie hielten Schilder in die Höhe mit Sätzen wie »Flüchtlinge sind hier willkommen« oder »Juden weisen keine Flüchtlinge ab«. Auf Facebook konterte die Ministerin: »Jeder vernünftige Mensch versteht, dass der winzige Nationalstaat des jüdischen Volkes kein Ersatz für die verschiedenen europäischen Länder sein kann, einschließlich der Nachbarn der Ukraine, die ihre Grenzen großzügig geöffnet haben.«
Kurz darauf wurde bekannt gegeben, dass die Aufnahmepolitik für nichtjüdische Geflüchtete etwas gelockert wird. Für Ukrainer, die Verwandte in Israel haben, werden Ausnahmen gemacht. Die israelischen Verwandten müssen allerdings unterschreiben, dass die Person aus der Ukraine nur »für ein oder zwei Monate bei ihnen bleibt, um Luft zu schnappen«, wie Shaked es ausdrückte. Gleichzeitig machte sie klar: »Der Staat Israel ist vor allem die Heimstätte des jüdischen Volkes.« Die zentrale Herausforderung sei es, »die Mengen an Neueinwanderern aufzunehmen, die ankommen werden«.
Petition Unterdessen entschied der Oberste Gerichtshof am Montag nach Einreichen einer Petition, eine Dringlichkeitsanhörung wegen der Einreisepolitik der Innenministerin einzuberufen. Innerhalb von sieben Tagen soll es eine Entscheidung geben. Die Petition argumentiert, dass eine Obergrenze für Geflüchtete gegen internationale Vereinbarungen und Konventionen verstößt, denen Israel beigetreten ist. Die ukrainische Botschaft in Israel unterstützt die Petition.
Botschafter Yevgen Korniychuk konstatierte, Israel tue nicht genug, um die Ukraine zu unterstützen. Es müsse Verteidigungshilfe leisten, Geflüchtete aufnehmen und eine klare Haltung gegenüber Russland beziehen. Er warf Jerusalem vor, »Angst« vor Moskau zu haben. Vor Journalisten erläuterte er am Freitag, dass der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj die Weigerung Israels nicht verstehe, der Ukraine Rüstungsgüter zur Verteidigung zur Verfügung zu stellen. »Ich als Botschafter verstehe Israels Position, aber unser Präsident nicht.«
»Israel wird Flüchtlingen, die vor dem Krieg in der Ukraine fliehen, erlauben, im Land zu bleiben, bis es für sie sicher ist, zurückzukehren.«
Premierminister Naftali Bennett
Israel schickte humanitäre Hilfe, darunter 100 Tonnen medizinische und Kaltwetterausrüstung. Gleichzeitig versucht Jerusalem jedoch, seit Beginn des Konfliktes einen Drahtseilakt zu vollziehen, um gute Beziehungen sowohl zur Ukraine als auch zu Moskau aufrechtzuerhalten.
Premierminister Naftali Bennett versuchte zu Beginn der Woche, das Bild geradezurücken: »Israel wird Flüchtlingen, die vor dem Krieg in der Ukraine fliehen, erlauben, im Land zu bleiben, bis es für sie sicher ist, zurückzukehren«, versicherte er. »In diesen Tagen steht das Volk Israel vor einer großen Herausforderung. Wir sind auf dem Weg zu einer Masseneinwanderungswelle. Viele Juden wollen zu uns kommen«, sagte Bennett.
Man werde auch nichtjüdische Einwanderer akzeptieren, die aus dem Kriegsgebiet fliehen und Verwandte in Israel haben. »Wir werden ihnen erlauben zu bleiben, bis die Aggression vorüber ist.«
Angehörige Nadja wünscht sich nichts mehr, als dass auch ihre Angehörigen es schaffen, nach Israel zu kommen. »Aber im Moment ist alles ungewiss, manchmal höre ich tagelang nichts, weil sie kaum noch Strom haben.« Ihren vollen Namen möchte sie nicht nennen, denn sie hat Familie in der Ukraine und in Russland und sorgt sich, dass es ihre Angehörigen in Gefahr bringt, wenn bekannt wird, dass sie die ukrainische Armee finanziell unterstützt. Ihre Mutter und Halbschwester leben in der Nähe von Kiew, andere Angehörige in Sankt Petersburg.
Seit Beginn der russischen Invasion sammelt die junge Mutter von zwei Kindern, die in Israels Zentrum lebt, Geld von Freunden und Bekannten, um die Verteidigung ihrer alten Heimat zu unterstützen. Mit jedem Tag des Krieges jedoch wird sie verzweifelter. »Ich bete und hoffe von morgens bis nachts. Es ist so, als würden wir unseren Liebsten beim Sterben zusehen. Mein Herz ist zerschmettert.«