IDF

Nur noch Dunkelheit

In tiefer Trauer: die Mutter (l.) und die Schwester (r.) von Alon Shamriz auf dessen Beerdigung im Kibbuz Schefaim Foto: picture alliance/dpa

»Sie hätten jetzt zu Hause sein können. Mit uns. Heute. In Freiheit«, sagte einer der Sprecher auf dem Platz der Geiseln in Tel Aviv, bevor seine Stimme brach. »Doch sie sind tot. Yotam, Alon und Samer, es tut mir so leid.«

Einen Tag vorher war bekannt gegeben worden, dass die Geiseln Yotam Haim (28), Alon Shamriz (26) und Samer Fuad El-Talalka (23) von IDF-Soldaten in Shejaiya im nördlichen Gazastreifen irrtümlicherweise erschossen wurden. Alle drei waren am 7. Oktober von Terroristen der Hamas entführt worden und hatten 70 Tage Geiselhaft überlebt.

Die schreckliche Tragödie wirft das israelische Volk in noch tiefere Verzweiflung und legt sich wie eine schwere Decke über die Menschen. »Du hast schon das Licht gesehen«, sagte Alons Bruder Ido in seiner Abschiedsrede, »doch dann war nur noch Dunkelheit.« Shamriz, Student der Computertechnik und ehemaliges Mitglied einer Armee-Eliteeinheit, wurde am Sonntag im Kibbuz Schefaim beigesetzt, wo der Großteil der Evakuierten aus Kfar Aza Zuflucht gefunden hat. Sein Vater Avi Shamriz macht Regierung und Armee verantwortlich: »Die Armee hat meinen Sohn am 7. Oktober im Stich gelassen, und die IDF hat meinen Sohn am 14. Dezember ermordet. Das ist, was passiert ist.«

Israel braucht einen Lichtblick

Dabei braucht Israel so sehr einen Lichtblick, ein positives Bild wie das der drei jungen Männer – zwei jüdisch, einer beduinisch –, die sich aus den Klauen der Hamas-Mörder befreien und gemeinsam in die Freiheit gelangen. Doch sie wurden von den eigenen Soldaten erschossen. Eine erste Untersuchung des Militärs ergab, dass die Soldaten gegen die Vorschriften verstoßen haben.

»Es handelt sich um ein verhängnisvolles Ereignis, das sich in einem Kampfgebiet mit vielen Terroristen ereignet hat«, sagte IDF-Sprecher Daniel Hagari. »Ein trauriges und schmerzhaftes Ereignis für uns alle, und die IDF trägt die Verantwortung für das, was passiert ist.« Premierminister Benjamin Netanjahu sprach von einer »unerträglichen Tragödie«.

Wie die Armee bekannt gab, habe eine der Geiseln eine weiße Flagge getragen. Die drei hatten zudem ihre Hemden ausgezogen, um anzuzeigen, dass sie keinen Sprengstoff am Körper trugen. Den Ermittlungen zufolge habe ein Soldat, der in einem der oberen Stockwerke eines Gebäudes in der Gegend stationiert war, das Feuer auf die Gruppe eröffnet. Zwei Geiseln waren sofort tot, eine floh in ein Gebäude.

Hilferufe auf Hebräisch

Dem Bericht zufolge hörten die Soldaten, als sie sich dem Gebäude näherten, Hilferufe auf Hebräisch, woraufhin der Kommandant befahl, das Feuer einzustellen. Doch dann sei der junge Mann aus dem Gebäude heraus- und wieder hineingerannt. Ein anderer Trupp, der zwischenzeitlich angekommen war, stürmte das Gebäude und tötete den jungen Mann.

Zwei Tage darauf sprach Stabschef Herzi Halevi vor Truppen in Gaza. Er betonte, dass auf Personen, die eine weiße Flagge tragen, nicht geschossen werden dürfe, und dass selbst feindliche Kämpfer, wenn sie ihre Waffen niederlegen und die Hände heben, gefangen genommen und nicht erschossen werden. »Wenn Sie Menschen mit erhobenen Händen sehen, nehmen Sie sich zwei Sekunden Zeit. Was ist, wenn Bewohner Gazas mit einer weißen Flagge herauskommen. Schießen wir auf sie? Absolut nicht! Absolut nicht!«

»Die Führung Israels verhält sich so, als hätte sie die Geiseln aufgegeben.«

Uri Svirsky

Samer Fouad El-Talalka stammte aus der Beduinenstadt Hura und arbeitete im Kibbuz Nir Am, aus dem er entführt wurde. Er war der älteste von vier Brüdern, ein leidenschaftlicher Motorradfahrer, der im nächsten Sommer heiraten wollte. Sein Vater, Lutfi El-Talalka, gibt sowohl Israel als auch der Hamas die Schuld am Tod seines Sohnes. »Die Armee muss die Geiseln sofort befreien und Lehren aus dem Geschehen ziehen. Samer hätte jetzt bei uns sein sollen.« Er sei sicher, dass es keine Absicht gewesen sei, ihn zu töten. »Aber wir haben nicht erwartet, dass unsere Truppen ihn erschießen. Er hat 70 Tage überlebt und hoffte, sicher nach Hause zu kommen. So wie wir es hofften.«

Viele Sprecher auf dem Platz der Geiseln betonten, dass sie die beteiligten Soldaten nicht beschuldigen. »Sie sind in einer völlig unmöglichen und unerträglichen Situation und tun ihr Bestes«, so der Tenor.

Kritik der Angehörigen an der Regierung

Doch die Angehörigen kritisieren die Regierung scharf. Uri Svirsky, Cousin von Itay Svirksy, der noch immer in der Gewalt der Hamas ist, sagte: »Die Führung Israels verhält sich so, als hätte sie die Geiseln aufgegeben. Wir bekommen sie als Leichen zurück. Sie werden durch Bombardierung, fehlgeschlagene Rettungsaktionen und das Gewehrfeuer unserer eigenen Streitkräfte getötet – sogar, wenn es ihnen gelingt zu fliehen.« Raz Ben Ami, die Ehefrau von Ohad Ben Ami, auch er Geisel, fügte hinzu: »Wir haben das Kriegskabinett angefleht und gesagt, dass die Kämpfe die Geiseln gefährden. Leider hatten wir recht.«

Die Beerdigung von Yotam Haim auf dem Friedhof des Kibbuz Gvulot im Süden des Landes war eine weitere traurige Bestätigung, dass alle Hoffnungen, 70 Tage lang, umsonst waren. Iris Haim, Yotams Mutter, gab ihrem Sohn mit auf den letzten Weg: »Du wolltest berühmt sein, ein Schlagzeuger, den jeder kennt. Du wolltest eine bessere Welt, ohne Böses und ohne Rache.« Der junge Mann mit den roten Haaren spielte in der Heavy-Metal-Band Persephore. »Jetzt kennt dich jeder. Einen wunderschönen Jungen mit einer sanften Seele und blauen Augen, der Tiere liebte und ein sehr talentierter Musiker war. Du gibst uns Hoffnung auf eine bessere Welt.«

Netta Barzilai, die israelische Sängerin, die 2018 die Eurovision gewann, und zusammen mit Yotams Bruder Tuval auftritt, schrieb: »Ich kann es nicht glauben. Wie viel Schmerz kann ein Mensch ertragen? Ich schreie. Es darf nicht wahr sein.« Sie war auch nach Gvulot gekommen, und während Familie und Freunde Yotam das letzte Geleit gaben, sang sie »Nothing Else Matters« von Metallica. »So close, no matter how far …« So nah – egal, wie weit entfernt …

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