Für die meisten Menschen auf der Welt mag es paradox klingen. Für viele französische Juden indes ist es logische
Schlussfolgerung. Sie packen ihre Koffer und ziehen nach Israel, weil sie sich in Nahost sicherer wähnen als in Europa. Nach den blutigen Terroranschlägen von Paris mehr denn je. Bereits im letzten Jahr verdoppelte sich die Zahl der Neueinwanderer aus Frankreich. Die Gemeinden in Jerusalem, Netanja oder Tel Aviv sorgen sich nun um ihre Angehörigen und Freunde, die noch in Frankreich leben.
Neve Zedek im Süden der Stadt ist das trendigste Viertel in ganz Tel Aviv. Anstelle der kleinen, verwinkelten Häuschen, die noch vor wenigen Jahren die Gegend charakterisierten, entstehen an jeder Ecke luxuriöse Neubauten für jene, die es sich leisten können. Man hört viel Französisch hier. Auf der angesagten Schabazi-Straße haben Olim Chadaschim eine französische Bäckerei eröffnet, die Boulangerie Française. Im Fenster liegen Buttercroissants, Baguettes und süße Brioches. Daneben kleben zwei Schilder in Schwarz: »Je suis Charlie« und »Je suis Juif«.
François Astrouc kommt mit einer Tüte aus dem Laden, aus der ein halbes Dutzend Stangenbrote lugen. Eigentlich ist er in Paris zu Hause, in Tel Aviv besucht er einige Tage lang Freunde. »Ich bin tief erschüttert über die Terroranschläge«, sagt er mit Tränen in den Augen. »Ich will es nicht wahrhaben, dass 17 Menschen mitten in Europa kaltblütig hingerichtet wurden. Die Vorstellung allein ist zu grausam.« Astrouc ist tieftraurig, verwundert hingegen ist er nicht. »Es hat alles darauf hingedeutet, dass es so weit kommen würde. Der Antisemitismus ist in der französischen Gesellschaft ständig spürbar. Leider.«
Neustart Ob er es in Erwägung zieht, nach Israel zu ziehen? »Auf jeden Fall. Ich denke ständig daran. Und ich bin mir sicher, dass mindestens die Hälfte der französischen Juden zumindest mental auf gepackten Koffern sitzt. Meine Freunde und ich sprechen auch oft darüber. Aber in der Realität ist es nicht einfach. Ich habe einen guten Job und liebe meine Arbeit, meine komplette Familie lebt in Frankreich. Man schmeißt nicht mal eben sein ganzes Leben um und fängt praktisch bei null an.«
Doch genau das tun immer mehr Juden aus Paris, Marseille oder Toulouse. Die Zahl derer, die Alija machen, steigt stetig. Nach Angaben der Jewish Agency wanderten 2014 rund 7000 Menschen nach Israel ein, im Jahr davor waren es 3400. Zu einer Einwanderungsmesse der Agency kamen letzte Woche in Paris rund 500 Interessierte. In früheren Jahren waren es bestenfalls ein paar Dutzend gewesen. Bereits vor den Anschlägen prognostizierte die Jewish Agency die Zahl der Einwanderer bis zum Jahresende auf rund 10.000.
»Dennoch«, sagt der Gesandte in Paris, Daniel Benhaim, »ist Alija besonders für Familien ein Prozess und keine Kurzschlusshandlung. Wir haben sehr schwere Ereignisse hinter uns, doch trotzdem sprechen wir über Menschen, die eine Wahl haben. Es geht nicht um Flüchtlinge, die fortlaufen. Deshalb wird es eine Zeit dauern.« Regierungschef Benjamin Netanjahu hatte die französischen Juden nach den Terrorattacken aufgerufen, nach Israel zu immigrieren. Er versprach, »alle mit offenen Armen willkommen zu heißen«.
Eine Botschaft, die Claire Nooij ganz und gar nicht gefällt. Vor sieben Jahren tauschte die säkulare Jüdin ihre französische Heimat gegen Tel Aviv – der Liebe wegen. Heute ist sie Mutter von zwei Kindern und mit einem Israeli verheiratet. Die Morde haben auch sie erschüttert. Doch Nooij denkt nicht in Kategorien. »Ich will gar nicht wissen, wer von den Opfern Jude war und wer nicht. Die Getöteten waren völlig unschuldige Menschen.« Sie hat das Bedürfnis, sich mit Freunden und Bekannten über das Geschehen auszutauschen, und hofft, dass die schrecklichen Anschläge zu einem tieferen Dialog führen. »Nicht nur in Frankreich oder Israel, sondern in der ganzen Welt.«
Die Familie Cohen aus Paris hat vor acht Jahren Israel als neue Heimat erkoren und fühlt sich in dieser Entscheidung heute mehr denn je bestätigt. Auch Maya und Olivier sind bestürzt, doch eine Überraschung seien die Terroranschläge nicht gewesen. »Das Klima hat sich bereits seit Jahren verschlechtert. Innerhalb der französischen Gesellschaft brodelt es – und nun hat sich der Hass Bahn gebrochen«, erklärt der zweifache Vater.
Kompromisse Olivier sagt, er habe die Bedrohung schon lange Zeit gespürt. Beide haben Familie in Frankreich und sorgen sich. »Ja, wir machen uns ständig Gedanken darüber«, gibt Maya zu. Dabei ist ihnen klar, dass der islamistische Terror sich nicht allein auf Frankreich beschränken wird, obwohl der Fokus derzeit auf das Land gerichtet ist. Olivier: »Es ist ein Krieg, den die ganze Welt führen muss. Vielen ist es noch nicht klar, doch es ist eine Tatsache.«
Der Politik in Europa mangele es an Mut, um eine Wende herbeizuführen, sind die Cohens sicher. »Es wird kein Tacheles geredet, sondern immer nur Kompromisse gemacht. Sogar mit dem Terrorismus.« In Europa und besonders in Frankreich gehe es vor allem um die Betonung der Gleichheit. »Ständig wird sich auf die demokratischen Grundsätze berufen. Doch wir Juden – trotz der französischen Pässe in unseren Taschen – werden anders angesehen.« Durch diese Außenseiterrolle gebe es eine permanente latente Bedrohung. »Die Opfer in dem koscheren Supermarkt wurden ermordet, weil sie Juden waren. Aus keinem anderen Grund. Das ist sehr traurig, aber so ist es.«
Die Cohens haben sich in Tel Aviv ein neues Leben aufgebaut. Sie sind eine modern-orthodoxe Familie, halten die Religionsgesetze ein und leben gleichzeitig ein modernes Leben. »Wir nehmen die Unsicherheiten, die es in Israel definitiv gibt, in Kauf«, erklären beide übereinstimmend, »damit wir in Sicherheit als Juden leben können.« In Frankreich sei das für sie so nicht mehr möglich gewesen. »Doch hier müssen wir uns nicht verstecken.«
Sie wünschen sich nun, dass ihre Familien es ihnen nachmachen und ebenfalls einwandern. Am besten sollten alle französischen Juden herkommen, meint Olivier. »Mir ist klar, dass dies eine traurige Botschaft ist, schließlich sind die Juden historisch seit langer Zeit mit Frankreich verbunden. Ich will auch nicht sagen, dass kein Jude woanders leben kann. Aber der sicherste Staat für uns ist Israel. Das ist die Realität.«