Wüsste man es nicht besser, könnte man meinen, das hier sei der Nabel der Welt: die Jerusalemer Altstadt, gerade einmal einen Quadratkilometer groß, eng, verschachtelt, intensiv, die Heimat der drei monotheistischen Weltreligionen, die hier ihre Wurzeln haben und erbarmungslos aufeinandertreffen. Juden, Christen und Muslime pilgern in diese Stadt mit ihren Heiligtümern, die immer wieder Austragungsort von Auseinandersetzungen ist. Steigen die Spannungen im Land, so sind sie oft zuallererst hier zu spüren, zwischen den jahrtausendealten Gemäuern.
Wüsste man es nicht besser, so könnte man an Tagen wie diesen aber auch meinen, die Altstadt sei das Paradebeispiel für harmonische Koexistenz. Alles wirkt friedlich an diesem 20 Grad warmen Frühlingstag mit seinem strahlend blauen Himmel, an dem Touristenscharen durch die Gassen trödeln, Gläubige zu ihren Gotteshäusern huschen und Händler ihre Waren anpreisen.
Gewalt Die Tore der Grabeskirche sind nach einem kurzen Protest der Kirchen Ende Februar wieder geöffnet, und auch die letzte Tempelbergkrise liegt Monate zurück. Im Sommer 2017 protestierten hier Muslime gegen Metalldetektoren, die Sicherheitskräfte nach einem tödlichen Terroranschlag auf zwei israelische Polizisten vor den Eingängen aufgestellt hatten.
Und auch die Proteste der Palästinenser nach den Freitagsgebeten gegen Trumps Anerkennung Jerusalems als Hauptstadt Israels im Dezember haben sich längst wieder gelegt. Nur die israelischen Sicherheitskräfte, die in der Altstadt postiert sind, erinnern an Tage der Gewalt und daran, dass sich hier jederzeit wieder alles ändern könnte. Es wird nur drei Tage dauern, bis ein Sicherheitsbeamter bei einem Messerangriff schwer verletzt wird.
Heute aber gehört die Altstadt den Friedliebenden. Im muslimischen Teil wandeln Pilger durch die engen Gassen der Via Dolorosa. Manche beten, einige tragen Kopfhörer, lauschen den Worten des Reiseführers, der ins Mikrofon spricht. Auf jenem Weg, wo einst Jesus zum Ort seiner Kreuzigung gegangen sein soll, befinden sich heute Metzger, Schuhverkäufer, Kaffeeröster, ein Spielzeugladen mit lila leuchtenden Hellseher-Kugeln und Actionfiguren aus Plastik, dazwischen Touristen-Shops, die Kreuze aus Olivenholz, bunt bemalte Schälchen, Vasen und T-Shirts anbieten.
Tempel Elf Minuten vor zwölf ruft der Muezzin zum Gebet. Es hallt aus den Lautsprechern, die in den Gassen angebracht sind. Manche Verkäufer versperren jetzt ihre Läden mit einem Besenstiel, den sie quer über die Waren vor den Eingängen legen. Sie eilen zu den Toren des Tempelberges, zur Al-Aksa-Moschee, dem drittwichtigsten Heiligtum der Muslime.
Sie beanspruchen den Tempelberg heute für sich. Nichtmuslimische Besucher dürfen nur zu bestimmten Zeiten auf das weitläufige Plateau. Einst stand auf dem Plateau der Zweite Tempel des jüdischen Volkes, der 70 n.d.Z. von den Römern zerstört wurde. Geblieben ist davon nur die Westmauer, heute der heiligste Ort für Juden.
Unter dem Ruf des Muezzins ziehen die christlichen Pilgergruppen weiter bis zur Grabeskirche, nur wenige Hundert Meter entfernt von Klagemauer und Tempelberg. Superman ist auch hier. Schauspieler Dean Cain steht mit seinem Team vor der Grabeskirche und sorgt bei Touristen und Pilgern, die ihn erkennen, für doppelte Aufregung. Unter dem Klang der Glocken, die Punkt zwölf Uhr in der benachbarten lutheranischen Erlöserkirche schlagen, posiert Superman für Selfies mit Fans. In der Kirche stehen die Besucher im ersten Stock an, um unter den Altar zu kriechen und die Stelle zu berühren, an der das Kreuz Jesu gestanden haben soll. Im Erdgeschoss knien vor allem orthodoxe Christen vor dem Salbungsstein.
Gesang 70 große Schritte von hier entfernt Richtung Süden gelangt man zur Shar-HaShalshelet-Gasse, die fast direkt zur Klagemauer führt. Die arabischen Händler verkaufen hier Kippot und Menorot. Es riecht nach Kardamom und Ziegenleder. Auf der rechten Seite: der Eingang zur Klagemauer. Es ist Donnerstag, Barmizwa-Tag, Dutzende Familien sind gekommen. Die Frauen stehen getrennt vom Geschehen hinter dem Absperrzaun. Manche haben sich auf Stühle gestellt, um einen Blick auf die Männerseite zu erhaschen, während die Jungen aus der Tora lesen. Am Ende werfen sie Süßigkeiten, rufen »Kululululu« – aber nur kurz. Frauen sollen hier nicht ihre Stimme erheben, nicht zum Gesang und nicht für die Rufe. Einige Ultraorthodoxe blicken streng hinüber.
70 Schritte weiter, am Eingang im Süden, dort, wo gerade die nächste Familie zur Barmizwa-Feier in Begleitung einer Band Richtung Klagemauer zieht, stehen Touristen Schlange. Hier gelangen Nichtmuslime über die Mughrabi-Brücke zum Tempelberg. Eine Stunde nur ist das Plateau für sie am Mittag geöffnet, dann erst am nächsten Morgen zwischen halb acht und halb elf wieder. Die Besucher müssen erst durch den Sicherheitscheck, israelische Polizisten stehen entlang der Brücke und am Eingang zum Tempelberg.
Gebet Auf der anderen Seite der Brücke machen Bauarbeiter gerade Mittagspause. Sie arbeiten am neuen Gebetsbereich, in dem Männer und Frauen künftig gemeinsam beten dürfen – direkt an der Mauer. Bisher reicht die aufgebaute Plattform nur bis rund 15 Meter vor das Heiligtum. Hier dürfen Frauen singen – und aus der Tora lesen. Auch Bnei Mizwa sind hier erlaubt.
Steigt man von hier gute 70 Schritte weiter, die Stufen hinauf ins jüdische Viertel, werden die Steine heller, die Gassen breiter und aufgeräumter: Das jüdische Viertel ist nach dem Sechstagekrieg 1967 teilweise neu aufgebaut worden. Eine religiöse Grundschulklasse ist unterwegs, der Lehrer mit Kippa und langem Bart bringt ihnen Pessachlieder bei. »Echad mi jodea. Echad ani jodea«, singt er vor. Noch sind die Kleinen nicht textsicher.
Einige Schritte weiter, in der breiten HaKardo-Straße, verkaufen jüdische Händler Gemälde, Gebetsmäntel, Schofarim, Kippot und Beauty-Produkte vom Toten Meer. Am Ende dann geht der Weg wieder in das alte und verwinkelte christliche Viertel über. Die Altstadt Jerusalems – es ist ein Ort der vielen Welten.