Von Albert Einstein bis Ada Yonath: Die Liste der Nobelpreisträger in den Bereichen Chemie und Physik liest sich wie das Who’s who jüdischer Wissenschaftler. Doch werden die Namen von Israelis bald schon nicht mehr dabei sein? Glaubt man führenden Köpfen in der akademischen Welt, steht die Ausbildung in naturwissenschaftlichen Fächern – allen voran in der Mathematik – an israelischen Schulen kurz vor dem Zusammenbruch.
Die Ergebnisse der unlängst veröffentlichten PISA-Studie (Program for International Student Assessment) war nur der Tropfen, der das Fass der Unzufriedenheit zum Überlaufen brachte. Israel landete auf einem gänzlich ruhmlosen Platz. Dabei hatte der jüdische Staat 1964 in sämtlichen Naturwissenschaften noch die Spitze besetzt. Mehr als 40 Jahre später scheint davon nichts mehr übrig. Rang 41 von 64 teilnehmenden Ländern lässt Lehrer wie Professoren gleichermaßen erschaudern. Sogar die Jungen und Mädchen in Dubai schnitten besser ab. Die hiesigen Schüler erlangten in Mathematik 447 Punkte, in Chemie, Biologie und Physik 455, der internationale Durchschnitt lag bei 496 beziehungsweise 501. Während es PISA zufolge lediglich halb so viele herausragende Kinder in Israel wie in anderen Ländern gibt, ragt die schlechteste Leistung indes weit über die Norm hinaus.
Protestbrief Grund genug für Experten, ihren Unmut publik zu machen: In einem offenen Brief an das Bildungsministerium beschwerten sich nach Bekanntwerden der Ergebnisse 30 Mathematikprofessoren gemeinschaftlich, »dass die Mathe-Lehrpläne an den Schulen skandalös schlecht sind und dringend von vernünftigen Bildungsinhalten ersetzt werden müssen«. Nach einer Studie der Tageszeitung Haaretz hätten 42 Prozent aller Lehrkräfte, die Mathematik an den Oberschulen unterrichten, niemals das Fach selbst studiert. Sechs Prozent hätten noch nicht mal einen Hochschulabschluss, müssten ihre Schüler jedoch auf das Abitur vorbereiten.
Ron Aharoni, Professor für Mathematik am Technion in Haifa, ist überzeugt: »Die Kinder werden heute nicht mehr systematisch unterrichtet. Sie arbeiten mit Büchern, die nicht richtig erklären, bekommen ein wenig hiervon vermittelt, etwas davon und sollen den Stoff selbst erkunden. Diese Methode aber verunsichert nur und führt zu Angst vorm Rechnen.« Aharoni glaubt an Systematik. Er ist Autor des Buches Arithmetik für Eltern, das Müttern und Vätern wie Grundschullehrern gleichermaßen helfen soll, den Kindern grundlegende Mathematik beizubringen. Ein großes Problem des Unterrichts sei der Mangel an Grundbegriffen, etwa für Formen. »Sie werden einfach nicht mehr beigebracht, doch das ist ein Fehler. Denn gerade diese Voraussetzungen schaffen Ordnung und Überblick, wenn es in höheren Klassen kompliziert wird. Fehlt ihnen jedoch schon in der Grundschule die Basis, kann es nur schlimmer werden.«
Lehre Zuständig für den Bereich Mathematik im Bildungsministerium verteidigt Chana Perl die Methode des Selbst-Erkundens: »Es ist erwiesen, dass sie das unabhängige Denken fördert. Natürlich müssen die Kinder lernen und wissen, doch sie sollen sich nicht nur auf stures Auswendiglernen konzentrieren.« Perl ist der Meinung, dass die Eltern die Lehrbücher oft nicht verstehen und sich deshalb beklagen. »Aber es gibt ja die Lehrer, die alles erklären.«
Ein Argument, das die Hochschulleiter keineswegs beeindruckt. Sie verzeichnen in den vergangenen zehn Jahren einen deutlichen Rückgang des Wissens der Studenten, die ins erste Semester aufgenommen werden. Vor allem in den Fächern Chemie, Physik und Mathe würden die Abiturienten reihenweise in die Unis strömen, ohne die nötigen Voraussetzungen mitzubringen.
Die israelische Variante des Abiturs nach der 12. Klasse, das Bagrut, ermöglicht es den Schülern, sämtliche klassischen Na-
turwissenschaften abzuwählen. Und viele machen davon Gebrauch: 80 Prozent haben in den letzten Klassen der Oberschule weder Physik, noch Chemie oder Mathematik auf ihrem Stundenplan stehen. »Wenn es so weitergeht«, fasst Aharoni zusammen, »gibt es in Israel in 20 Jahren keine Wissenschaft mehr«.