Israel im Krieg

Netivot - Eine Stadt hilft sich selbst

Sderot Weizmann 32, Netivot. Hier ist gleich am ersten Tag des Krieges, am 7. Oktober, eine Rakete der Hamas in ein Wohnhaus eingeschlagen. Drei Menschen haben dabei ihr Leben verloren: Raphael Fahimi, Netanel und Raphael Meir Maskelchi sel. A.. Großvater, Vater und Sohn - drei Generationen.

Der untere Teil des Gebäudes ist völlig verwüstet, die Fassade des dreistöckigen Hauses verkohlt. Im Garten liegen Bretter, Zaunreste und Unrat, dazwischen ein kleiner Feuerlöscher. Gelbe Gitter sind aufgestellt, rotweißes Absperrband hängt dazwischen. Es ist ruhig, niemand zu sehen, das Haus verlassen. Nur vom Dach ist ein Bohrgeräusch zu vernehmen. Ein Wasserboiler wird repariert.

Auf der Straße vor dem Gebäude parkt ein schwarzer Kleinwagen. Hinter dem Steuer sitzt eine junge Frau. Sie heißt Adi. Ihr Freund wohnt im dritten Stock des Hauses. »Wir waren an diesem Vormittag im Bunker. Es muss so gegen 11 Uhr gewesen sein, als die Rakete einschlug, eine Minute nach der Sirene, ohne Vorwarnung«, erzählt sie. Es sei schrecklich, dass dabei drei Menschen starben. »Wir waren jetzt zwei Wochen in Eilat, sind nur gekommen, um etwas Kleidung und ein paar andere Sachen aus der Wohnung zu holen.«

Ein paar Ecken entfernt stehen Shira und Yehuda mit ihrem Hund Papi. Auch sie haben in diesem Krieg schon viele Detonationen gehört, aber bislang ist glücklicherweise bei ihnen noch nichts passiert. Sie wohnen in einer Zweizimmerwohnung. Wie die anderen Nachbarn hier im Viertel haben auch sie keinen Schutzraum. »Und der Bunker ist voller Müll. Kein Wasser, nichts. Es stinkt. Da gehen wir nicht hin.«

Ertönt die Sirene, suchen sie Schutz im Treppenhaus. Die Situation ist unbefriedigend, sagen sie. »Aber hier im Viertel wohnen viele ältere Leute, wie wir. Niemand von der Regierung kommt, keiner fragt oder kümmert sich um uns.«

An einer Bushaltestelle wartet Orna, eine religiöse Frau mit schwarzem Kopftuch. Sie ist mit ihrem Sohn Chananel unterwegs, der unter schweren Angstzuständen leidet, wie sie sagt. Sie wohnen hier im Viertel, in dem alte zweistöckige Bauten stehen, keine Wohnung einen Schutzraum hat. »Wir haben nichts, wo wir hinkönnen. Uns bleibt nur, zu beten«, sagt Orna.

Wenige hunderte Meter die Sderot Weizmann hoch: Hier stehen Einfamilienhäuser und Bungalows. Die meisten Rollläden sind heruntergelassen. Straßen menschenleer. Der Kindergarten geschlossen. Nur wenige Autos an der Seite geparkt.

Ein Stück weiter im Neubauviertel mit fünfstöckigen Häusern steht eine Frau auf dem Gehweg. Sie heißt Oschrit. Sportliche schwarze Kleidung, Wasserflasche in der Hand. Es sieht aus, als ob sie Sport treiben wolle. »Nein«, lacht sie, »ich war eben bei einer Freundin, und jetzt warte ich, dass ich hier gleich abgeholt werde.« Sie wolle nicht allein draußen herumlaufen, das mache Angst, ohne besonderen Grund unterwegs zu sein.

Das Viertel ist nur scheinbar menschenleer

Das Viertel scheint menschenleer. Aber Oschrit widerspricht. »Nein, die meisten sind wohl zu Hause. Aber kaum einer traut sich nach draußen.« Im Gegensatz zu anderen Städten und Siedlungen in der Nähe des Gazastreifens, seien hier die Anwohner nicht evakuiert worden. »Wer gegangen ist, der tut das auf eigene Kosten«, sagt sie. »Und irgendwie fühle ich mich zu Hause doch am sichersten.« Sie lebt im Neubau, hat einen Schutzraum.

Solche und ähnliche Stimmen sind auch in anderen Städten und Siedlungen in dieser Gegend zu hören. Netivot liegt nur 11 Kilometer vom Gazastreifen entfernt. Viele der rund 42.000 Bewohner leben in den einfachen und preisgünstigen Wohnvierteln, ohne wirklichen Schutz vor den Raketen, sie müssen versuchen, innerhalb weniger Sekunden nach dem Alarm die öffentlichen Bunker aufzusuchen. In den neueren und besseren Vierteln hat fast jede Wohnung einen Schutzraum.

Aber irgendwie scheint es, dass die Stimmung in Netivot doch noch etwas anders ist. Einige meinen, ihre Stadt habe himmlischen Beistand. Schließlich befindet sich hier das Grab von Israel Abuhatzeira, einem prominenten sefardischen Rabbiner marokkanischer Herkunft, der zu seinen Lebzeiten Wunder vollbracht haben soll. Er ist bekannt und wird verehrt als Baba Sali. Zahlreiche Anhänger und Pilger kommen sonst an den Ort, an dem sich auch eine Synagoge befindet. Heute ist das weitläufige Gelände fast leer. Drei Reservesoldaten haben eben am Mincha-Gebet teilgenommen. Ehud ist einer von ihnen. Er meint: »Das gibt mir etwas, in der Nähe seines Grabes zu beten. Unabhängig von der Situation. Ich glaube daran, dass Baba Sali uns beschützt.«

Und Rabbi David von der Jeschiwa Baba Sali versichert: »Das Grab eines Zaddiks, eines Heiligen, ist wie ein kleines Stück des Tempels, wo die Gebete erhört werden.« Sicherlich sind es in diesen Tagen viele Gebete für die sichere Heimkehr der Soldaten.

In Netivot gab es schon immer viel Nachbarschaftshilfe, doch in diesen Kriegstagen ist der Gemeinsinn noch viel ausgeprägter

Auch Inbal meint, dass die religiöse Atmosphäre in der Stadt dazu beiträgt, dass man in Netivot ein »Gefühl des Miteinanders« hat. Und wenn man nicht persönlich in Kontakt ist, wie jetzt, dann übers Handy: »Wir haben viele WhatsApp-Gruppen. Da ist viel Gemeinsamkeit.« Im Moment werde per WhatsApp sogar organisiert, wer den in der Stadt stationieren Soldaten die Wäsche wäscht oder ihnen Essen bringt. Auch wenn manches unter den derzeitigen Umständen nicht so läuft, wie gewohnt: »Wir helfen uns selbst.« Sie berichtet, dass es in Netivot schon immer viel Nachbarschaftshilfe gab. Jetzt, in diesen Kriegstagen, sei dieser Gemeinsinn noch viel ausgeprägter.

Inbal ist Mutter von vier Kindern. Sie ist erst vor kurzem ins Neubauviertel Neve Sharon gezogen. Für eine Woche ist die Familie der angespannten Situation nach Eilat entflohen. Aber jetzt ist sie wieder zurück. Sie arbeitet, wie ihr Mann, im Schichtdienst im Krankenhaus. Sie ist Hebamme. »Auch wenn wir daran gedacht haben, unser Zuhause jetzt zu verlassen: Das geht mal für ein oder zwei Wochen. Und wie lange kann man mit den Kindern herumziehen, sie brauchen das Gefühl, zu Hause zu sein.«

Der Kriegsalltag ist nicht einfach. Auch und vor allem die Kinder haben mit Herausforderungen zu kämpfen. »Sie haben Angst nach draußen zu gehen, bleiben die meiste Zeit in Nähe des Schutzraumes«, erzählt Inbal. Dazu kommt das andauernde Artilleriefeuer, das die Wohnung manchmal beben lässt. Mindestens dreimal am Tag Sirenen, manchmal auch ein Dutzend Mal.

Mindestens dreimal am Tag Sirenen, manchmal auch ein Dutzend Mal

Auf der Straße steht Emanuel mit einem Karton in der Hand, voller Knabberzeug, Lebensmittel und religiöser Bücher. Emanuel ist Talmudschüler, seine Jeschiwa ist derzeit geschlossen. Jetzt verteilt der junge Mann Dinge an bedürftige Familien, die ihre Wohnungen nicht verlassen können. Es ist eine private Initiative. Kürzlich habe er auch Soldaten besucht, die am Stadteingang stationiert sind.

Neben der privaten Hilfe unter Nachbarn oder im Wohnviertel wurde gleich nach Kriegsbeginn in der Nähe der Polizeistation von Netivot ein Hilfszentrum eingerichtet. Hier treffen private Spenden ein, freiwillige Helfer organisieren die Logistik.

Von Babynahrung über Milch und Joghurt, von Nudeltüten bis zu Thunfischdosen und selbst Hundefutter wird alles in Regalen gelagert. Sobald sich Bedürftige melden, fahren Freiwillige mit ihren Privatwagen zu ihnen, um sie mit dem Nötigsten zu versorgen.

Bürgermeister Yehiel Zohar schaut im Hilfszentrum vorbei. Er informiert sich über den Stand der Dinge, will wissen, was benötigt wird. Zum Zentrum und seinen Aufgaben sagt er unserer Zeitung: »Netivot ist eine Stadt, die sich von anderen in der Gegend unterscheidet. Wir haben hier eine besondere Situation, mit 30 Prozent sozial schwachen Familien. Ihnen müssen wir uns schon in normalen Zeiten widmen, jetzt aber ganz besonders.« Bürgermeister Zohar ist sichtlich stolz darauf, dass sich so viele seiner Bürger für andere engagieren: »Alles basiert auf Freiwilligkeit, 24 Stunden, rund um die Uhr. Wir haben hier ein Zentrum aufgebaut, dass versucht, den Bedürfnissen der sozial Schwachen in dieser Notsituation gerecht zu werden.«

Bürgermeister ist stolz auf die Freiwilligen und resigniert wegen der Regierung

Eher resigniert beschreibt er die Unterstützung offizieller Stellen für seine Stadt. Er habe sich schon vor Jahren an die Regierung gewandt, und darauf aufmerksam gemacht, dass es zu wenig Schutz vor Raketenangriffen gibt. Ein Großteil der Menschen in seiner Stadt wohnen in einfachen Verhältnissen, haben keinen Schutzraum. »So müssen wir dafür sorgen, dass sie öffentlichen Bunker aufsuchen. Das ist nicht ideal, das ist nur übergangsweise. Aber es ist, wie es ist.«

Eine der Freiwilligen, Nurit, hört dem Gespräch zu. Sie lobt den Bürgermeister: »Er ist jederzeit für uns da.” In normalen Zeiten ist sie beim Naturschutz beschäftigt. Jetzt packt sie im Hilfszentrum mit an. »Es berührt wirklich das Herz. Viele arbeiten hier 16 Stunden. Es ist wunderbar, diese Hilfsbereitschaft in Netivot zu erleben.«

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