Am Vorabend seines Rücktritts holte er noch einmal richtig aus. In Zukunft wird der israelische Staatskontrolleur Micha Lindenstrauss keine Berichte mehr verfassen. Dafür steckte in seinem letzten noch jede Menge Zündstoff. Es ging um die sogenannte Gaza-Flottille von 2010, bei der israelische Soldaten neun Aktivisten töteten, nachdem sie selbst angegriffen worden waren.
Lindenstrauss kritisiert vor allem Premierminister Benjamin Netanjahu, der »keinerlei Protokoll« gefolgt sei. Die Regierung sei sich sehr wohl bewusst gewesen, dass die türkischen Schiffe anders sein würden als jene, die zuvor versucht hatten, die Gaza-Blockade zu durchbrechen. Dennoch habe sie sich nicht an die entsprechenden Vorgaben für Entscheidungsprozesse in derartigen Fällen gehalten.
Die fünf Schiffe der türkischen Flottille mit Hunderten von Aktivisten an Bord hatten sich dem blockierten Gazastreifen am 31. Mai 2010 genähert. Nachdem sie auf wiederholte Warnungen der Marine Israels nicht reagierten, beschloss die Armee, die Boote zu entern.
Kritik Auf der »Mavi Marmara« wurden die Soldaten mit Eisenstangen, Messern und extremer Gegenwehr angegriffen. Die israelischen Einsatzkommandos töteten neun der gewalttätigen Aktivisten während der Aktion. Israel musste herbe internationale Kritik einstecken. Die Beziehung zur Türkei, einst stärkster Verbündeter des jüdischen Staates in der Region, liegt seitdem brach.
Der Bericht des Kontrolleurs bescheinigt Netanjahu vor allem Versagen beim Einhalten der Entscheidungsprozesse. Statt koordinierter Diskussionen im Vorfeld hielt er private Treffen mit Ministern ab, die nicht einmal dokumentiert sind. Das »Forum der Sieben«, eine Gruppe von Ministern aus dem Kabinett, dem der Premier vorsitzt, verfüge jedoch über keinerlei verfassungsrechtliche Basis, erläutert Lindenstrauss.
Die Strategie sei schnell zusammengezimmert worden und folgte in keiner Weise den Empfehlungen der Winograd- und Lipkin-Schahak-Komitees, die nach den Verfehlungen der Politiker im Anschluss an den Zweiten Libanonkrieg verfasst wurden.
Dabei habe es angeblich bereits seit Anfang 2010 ausreichende Berichte über die bevorstehenden Schwierigkeiten mit den Schiffen und ihrer Besatzung gegeben, macht Lindenstrauss’ Papier deutlich. Verteidigungsminister Ehud Barak und der damalige Stabschef Gabi Aschkenazi hätten Netanjahu zu einer außerordentlichen Kabinettssitzung bezüglich der Flottille gedrängt – doch nichts geschah.
Netanjahus Büro erwiderte, dass die Regierung keineswegs von dem Ausmaß der Gefahr, die von der Besatzung der »Mavi Marmara« ausging, geahnt habe. »Hätte das militärische Establishment gewusst, wie gefährlich die Teilnehmer der Flottille sind«, so die Pressemitteilung, »hätte es sich anders vorbereitet – und das Ergebnis wäre ein anderes gewesen«.