Sie war noch keine 18 Jahre alt, als sie von einem Mann in Mailand vergewaltigt wurde. »Als ich mich von meinem Peiniger befreien konnte und wieder allein im Zug war, rief ich meine Mutter an. Das Erste, was sie sagte, war: ›Was auch immer geschah, dich trifft keine Schuld.‹« Und das zweite: »Jetzt bloß nicht duschen!« Linor Abargil hatte auf den weisen Rat ihrer Mutter gehört, ansonsten wäre die Beweislage für die Polizei schwierig gewesen. »Denn nach einer Vergewaltigung steht Aussage gegen Aussage.«
Rund sechs Wochen später wurde Linor Abargil, die damalige Miss Israel, auf den Seychellen zur Miss World 1998 gewählt. Erst wollte sie gar nicht an dem Wettbewerb teilnehmen. Aber irgendwann verstand sie die Wahl als willkommene Ablenkung oder als Flucht vor sich selbst. Ihre Gedanken kreisten damals nicht um das Gewinnen. »Ich dachte, wenn ich gehe, dann kann ich vielleicht vergessen, was sich natürlich als großer Irrtum erwies.« Sie sei nicht richtig bei der Sache gewesen. Doch plötzlich habe Linor Abargil als Siegerin dagestanden. »Erst wirst du fast umgebracht, und dann trägst du diese Krone auf dem Kopf, und die ganze Welt schaut dich an.«
Die Miss-World-Organisatoren wussten nichts von Abargils Geschichte, und trotzdem waren die Zeitungen im Anschluss voll davon. Über Nacht war sie außerhalb ihrer Heimat zu einer öffentlichen Person geworden und musste lernen, damit umzugehen – auch inmitten eines Gerichtsprozesses. Die ersten zwei Jahre nach der Vergewaltigung machte sie deshalb eine Psychotherapie.
Im Dezember sprach sie vor den Vereinten Nationen über die sexuelle Gewalt der Hamas.
Rückblickend ist die heute 43-Jährige überzeugt, dass es einen Grund hatte, weshalb sie zur Miss World gekürt wurde. »Als ich im Dezember auf einer Sonderveranstaltung der Vereinten Nationen über sexuelle Gewalt durch die Hamas sprach, wurde mir klar, dass die vergangenen 25 Jahre exakt für diesen Moment standen: Damit ich hier für alle Frauen sprechen kann.« Abargil verurteilte in ihrer flammenden Rede die internationalen Frauenorganisationen scharf für ihr Schweigen zu den sexuellen Übergriffen vom 7. Oktober 2023 und betonte die Notwendigkeit, den Opfern Gehör zu verschaffen.
Bis heute nutzt sie jede Plattform, um darüber zu sprechen. »Ich wünschte, alle Opfer von sexueller Gewalt hätten eine Mutter, so wie ich damals«, sagt sie im Gespräch mit der Jüdischen Allgemeinen kurz vor ihrem Auftritt beim World Economic Forum (WEF) in Davos. Die meisten Frauen würden immer noch alles unter den Teppich kehren, weil sie sich schämen würden oder Angst hätten.
Wie erklärt sie sich die Scham der Opfer?
Wie erklärt sie sich die Scham der Opfer? »Bei einem solchen Akt werden deine Seele und dein Körper geraubt.« Vielfach wird Frauen sogar von ihren Familien erklärt, sie seien selbst schuld an der Vergewaltigung. Dies geschieht nicht nur in patriarchalisch geprägten Kulturen. »Oder man verschweigt die Tat ganz, nach dem Motto, wenn ich nicht darüber rede, so ist es auch nicht passiert.«
Sie habe im Rahmen ihrer Miss-Wahl Frauen aus vielen verschiedenen Kulturen kennengelernt. »Wir sind im Endeffekt alle gleich, egal, woher wir kommen. Letztendlich wollen wir als Menschen behandelt werden, denen man mit Respekt gegenübertritt.« Sie kenne viele charedische Frauen mit einem ähnlichen Schicksal. Auch hier werde geschwiegen. »Erst wenn endlich jemand darüber spricht, werden Dämme gebrochen.« Und diesen ersten Schritt brauche es bei allen Frauen. Es seien nicht zwingend die westlich geprägten Frauen, die aufstehen würden und darüber sprechen. »Auch im Norden von Tel Aviv, wo ich herkomme, wird geschwiegen.«
Selbst Linor Abargil hatte ihrem Vergewaltiger zuerst Schweigen versprochen: Sie wurde von ihrer italienischen Modelagentur an einen Reiseagenten verwiesen, um Hilfe bei der Umbuchung ihres Rückflugs nach Israel zu erhalten. Dieser sagte Abargil, dass es einfacher sei, von Rom aus in ein Flugzeug zu steigen, und bot ihr an, sie mit seinem Auto dorthin zu bringen. Unterwegs bog er auf eine abgelegene unbefestigte Straße ein, wo er Abargil mit einem Messer bedrohte, sie auf dem Rücksitz fesselte und vergewaltigte. Anschließend begann er, sie mit einem Seil zu erwürgen. Abargil war sich sicher, dass er vorhatte, sie zu töten, und schaffte die Flucht, indem sie ihm versicherte, sie wisse ja, dass dies »nicht wirklich er« sei und sie niemandem davon erzählen würde.
Selbst Linor Abargil hatte ihrem Vergewaltiger zuerst Schweigen versprochen
Abargil hat es sich zur Pflicht gemacht, für andere zu sprechen, ihnen eine Stimme zu verleihen, auch wenn sie schon tot sind – wie nach dem 7. Oktober. Das grausame Massaker, bei dem unzählige Frauen aufs Schlimmste vergewaltigt und misshandelt wurden, ließ auch bei Abargil wieder alles innerlich aufflammen. »Eine solche Tat überwindet man nie. Man kann irgendwann damit umgehen, aber sie ist nie aus deinem Leben verschwunden.«
Als sich der 7. Oktober ereignet hatte, habe alles in ihr angefangen, sich zu bewegen. »Aber ich war nur ein paar Stunden in Gefangenschaft des Täters, die israelischen Geiseln sind es seit mehr als 150 Tagen. Wenn ich erfahre, was die Frauen alles erleben mussten, welche Höllenqualen müssen dann ihre Angehörigen durchleben?« Es gehe nicht darum, für die eine oder andere Seite Position zu beziehen – »egal, auf welcher Seite der Landkarte du dich befindest, Frauen dürfen nie als Kriegswerkzeuge benutzt werden. Das ist inakzeptabel. Die Terroristen töten um des Tötens willen«.
Noch einmal zurück zum Schweigen – aber diesmal zum öffentlichen Schweigen. Das erklärt sich Abargil ganz klar mit Antisemitismus. »Me too unless you are a Jew«, gibt sie trocken zur Antwort. Das habe sie so wütend gemacht, als sie vor den Vereinten Nationen gestanden habe: Die dort vertretenen Frauenorganisationen hätten knapp drei Monate gebraucht, um endlich aktiv zu werden. »Bringt mehr Beweise, hieß es immer. Welche Beweise soll man denn noch liefern, wenn es Bilder gibt mit Messern im Unterleib, die davon zeugen? Braucht es noch mehr Blut auf den Bildern?«, fragt Abargil zynisch.
»Me too unless you are a Jew«
Seien die Erfahrungsberichte der befreiten Geiseln denn nicht Beweis genug? Und was ist mit all den Videos, die die Hamas im Nachgang des Massakers an die Angehörigen der Opfer geschickt habe? »Es ist alles so abscheulich! Nun verstecken sich die Terroristen in ihren Tunneln, zuvor haben sie mit ihren Taten ›meisterhafte‹ PR-Arbeit geleistet.«
Abargil ist sichtlich ergriffen, wenn sie darüber spricht. Deshalb sei sie auch nach Davos gekommen. »Nie wieder« dürfe keine leere Floskel sein. Am World Economic Forum hätten die wichtigen Leute aus Politik und Wirtschaft die Macht, etwas zu bewegen. Hier sehe sie auch ihre Mission, um die Leute aufmerksam dafür zu machen.
Als Erstes müssten aber die Geiseln befreit werden. »Jeder Tag mehr ist die Hölle für diese Menschen«, davon geht Abargil aus. Und sie weiß aus eigener Erfahrung, dass es Jahre braucht, bis die Opfer wieder gesund sein können, vor allem mental gesund. Dann fügt sie als Beispiel die Geschichte einer freigelassenen Geisel an, von der es hieß, dass sie »gesund befreit« wurde. «Was heißt hier gesund? Das Mädchen ist nicht mehr fähig zu essen, weil während ihrer Hamas-Gefangenschaft immer jemand mit einer Waffe neben ihrem Kopf saß. Das traumatisiert!«
Sie hat es sich zur Pflicht gemacht, für andere zu sprechen – auch wenn sie schon tot sind.
Als Aktivistin sieht sich Linor Abargil nicht explizit. »Ich bin eine Frau und kämpfe für meine Anliegen im Namen aller Frauen«, sagt eine, die genau weiß, wovon sie spricht. Ihre Berühmtheit hat sich die mittlerweile vierfache Mutter zunutze gemacht, um auch Filme über ihr Anliegen zu drehen, um eine Botschaft in die Welt zu tragen. Im Jahr 2008 initiierte Abargil die Dreharbeiten zu einem Dokumentarfilm, der auf ihrer eigenen Vergewaltigungsgeschichte und ihrem Engagement basiert. Brave Miss World heißt der Film, der unter der Regie von Cecilia Peck entstand.
Der Film dokumentiert auch ihre Versuche, mit den Folgen der erlebten Gewalt umzugehen
Darin begleitet die Regisseurin das Ex-Model aus Netanya auf ihrer Reise um die Welt. Abargil hält Vorträge vor Gruppen, trifft Frauen und ermutigt sie, über ihre Erfahrungen mit sexueller Gewalt zu sprechen. Der Film dokumentiert auch ihre Versuche, mit den Folgen der erlebten Gewalt umzugehen. Er zeigt ihre Beziehungen zu Familienmitgliedern, ihre Rückkehr zur Religion, die bedeutete, dass sie nicht mehr als Model arbeitete, sowie ihre Entscheidung, Jura zu studieren und für die Staatsanwaltschaft zu arbeiten.
Am Ende des Films begibt sich Abargil in Italien auf die Spuren der Zeit vor und nach der Vergewaltigung, trifft sich mit Menschen, die ihr geholfen haben, etwa dem untersuchenden Arzt. Und sie stellt die Modelagenten zur Rede, die sie dafür verantwortlich macht, sie und andere junge Menschen wissentlich dorthin geschickt zu haben, wo Schreckliches mit ihnen geschehen konnte. Der Film folgt auch Abargils Privatleben, ihrer Ehe, der Geburt ihrer ersten beiden Kinder und ihrer spirituellen Reise.
Die Religion habe nie einen großen Stellenwert in ihrem Leben gehabt. »In meiner Familie waren wir nicht religiös. Aber der Glaube an die Menschlichkeit war immer sehr zentral.« Weshalb also die Rückkehr zur Religion? »Ich war immer auf der Suche nach einem Grund, warum wir hier leben. Aber ich konnte keinen finden. Nachdem ich fast mein Leben verloren hatte, fragte ich mich noch mehr: Warum bin ich eigentlich da? In unserer Religion fand ich zunehmend Antworten, die für mich schlüssig waren«, weiß Abargil heute. Es habe alles einen Sinn. Aber noch viel wichtiger im Leben sei für sie das Geben. »Wenn ich anderen helfe, dann fühle ich mich lebendig.« Das sei der Grund für ihr Engagement.