Auf den ersten Blick könnte man meinen, es sei nichts gewesen. In Tel Aviv, Jerusalem, Aschkelon und Sderot scheint das Leben wieder seinen gewohnten Gang zu gehen. Jugendliche machen sich nach den Ferien mit ihren brandneuen Elektrorädern auf den Weg in die Schule, ihre Eltern hasten ins Büro oder stehen Schlange an den Supermarktkassen, um die Vorratsräume zu füllen. Unter der Oberfläche aber sind die Auswirkungen unübersehbar, die die fast zwei Monate andauernde Militäroperation »Protective Edge« in der israelischen Bevölkerung hinterlassen hat.
Psychologenverbände warnen, dass das Posttraumatische Stresssyndrom (PTSD) massenhaft zunehmen könnte. Besonders für die Menschen im Süden, die sich fast ohne Unterlass dem Beschuss aus Gaza ausgesetzt sahen, könnte es schwere gesundheitliche Nachwirkungen geben. Das Kaplan-Krankenhaus in Rechowot erklärte, der Stress während des Krieges habe zu einer beträchtlichen Erhöhung der Blutzuckerwerte in der Bevölkerung geführt. Diabetes-Patienten würden dadurch verstärkt unter Stoffwechselstörungen leiden.
Schulanfang Am vergangenen Samstag um sechs Uhr hatte der Kommandant der Heimatfront (Pikud Haoref) alle Bestimmungen aufgehoben, die während des Gazakrieges gegolten hatten – auch für den Süden. Dazu gehörten unter anderem das Offenhalten der Bunker und das Verbot großer Menschenansammlungen. Schulen ohne verstärkte Schutzmauern hätten auch nach Ende der Ferien geschlossen bleiben müssen. Doch nach dem Ende der Kämpfe drücken nun auch die Mädchen und Jungs in den südlichen Gemeinden seit Montag wieder die Schulbank. »Es war ein schwerer Sommer für uns alle«, schrieb Bildungsminister Schai Piron auf seiner Facebook-Seite. »Nun wünsche ich ein gutes und friedliches Jahr.«
Das wünscht sich auch Chaim Yellin, der Vorsitzende der Eschkol-Region, die an den Gazastreifen angrenzt. Jellin ist bekannt für seine Kritik an der Regierung. Er rief seine Mitbürger auf, in ihre Häuser zurückzukehren. »Ich danke für eure Standhaftigkeit. Ihr seid viel stärker als so mancher in Jerusalem.«
Nicht nur die Menschen im Süden fragen sich, ob die Operation, die 72 Menschen auf israelischer und wahrscheinlich mehr als 2000 auf palästinensischer Seite das Leben kostete, die Hamas tatsächlich langfristig abschrecken wird. Denn schon jetzt droht der politische Anführer der Hamas, Khaled Meschaal, seine Gruppe werde die »heiligen Waffen« niemals niederlegen. »Die Waffen und die Tunnel existieren. Wenn die Gespräche scheitern, werden wir unseren Weg des Widerstands wieder aufnehmen«, verkündete er.
»In einem solchen Fall«, konterte Premierminister Benjamin Netanjahu, werde man »siebenfach antworten«. Doch wenn es nach ihm geht, wird es nicht dazu kommen. Netanjahu erklärte stattdessen, seine Regierung werde den Versuch des Palästinenserpräsidenten Mahmud Abbas, die Regierung im Gazastreifen wieder zu übernehmen, unterstützen. Dass das in naher Zukunft geschehen wird, daran glauben allerdings die wenigsten Experten. »Die Hamas verhindert das«, heißt es auch aus palästinensischen Quellen. Gleichzeitig distanzierte sich Abbas trotz der Versöhnungsvereinbarung von der Terrorgruppe in Gaza, indem er sie beschuldigte, die Kämpfe unnötig in die Länge gezogen zu haben: »2000 Tote, 10.000 Verletzte und 50.000 zerstörte Häuser. Das alles hätte verhindert werden können«, wird der Präsident zitiert.
Verluste Neben den politischen werden in diesen Tagen auch die wirtschaftlichen Folgen aufgerechnet. Der Vorsitzende der hiesigen Kreditkartenfirma CAL, Doron Sapir, weiß, dass die Zuversicht täglich wächst. »Nach einem Rückgang der Kreditkartennutzung von fast acht Prozent während der Kämpfe sind die Käufe schon am zweiten Tag des Waffenstillstands um 3,8 Prozent gestiegen«, gibt Sapir an.
Für viele Selbstständige in der Tourismus- und Einzelhandelsbranche bewegen sich die Verluste im zweistelligen Bereich und sind wohl kaum wieder aufzuholen. Im Süden verloren die Einzelhändler im Durchschnitt zwölf Prozent ihrer Einnahmen, in Tel Aviv nahezu zehn und in Jerusalem sogar 17 Prozent. Ein Großteil davon wird dem Fernbleiben ausländischer Touristen während der Hochsaison zugeschrieben.
Entschädigung Lediglich Händler bis zu einer Entfernung von 40 Kilometern um den Gazastreifen haben dem Gesetz nach Anspruch auf Entschädigung. Unternehmen in Tel Aviv oder Jerusalem sind somit davon ausgenommen. Doch auch diejenigen, die eine Entschädigung erwarten können, äußern sich enttäuscht, denn »mehr als die Hälfte sehen wir ohnehin nicht«.
Die Tourismusindustrie scheint von allen am härtesten getroffen. Ihre Vereinigung geht davon aus, dass Hotels, Restaurants, Autovermieter, Souvenirläden und andere während der 50 Tage des Kämpfens rund 40 Millionen Euro verloren haben. Insgesamt 24 Prozent weniger Besucher reisten im entsprechenden Zeitraum aus dem Ausland an. Die Hotelvereinigung vermeldet, dass die Übernachtungsrate in Tel Aviv um fast 40 Prozent zurückgegangen ist.
Und noch sind die Gäste nicht zurück. »Es wird sicher bis zum ersten Quartal 2015 dauern, bis die Touristen wieder in großer Zahl Israel bereisen«, hieß es in einer Erklärung des Verbandes. »Damit, so sieht es aus, hat die Branche nicht nur die Sommersaison verloren, sondern auch die der hohen jüdischen Feiertage und auch Weihnachten.« Wie die Kompensation für diese Unternehmen vonstatten gehen soll, ist unklar. Den Wunsch des Tourismusverbandes, die Branche mit 150 Millionen Euro zu unterstützen, lehnte das Finanzministerium ab.
Ernte Mario Riba ist Landwirt und Imker im Moschaw Taaschur, zwölf Kilometer von Gaza entfernt. Während der Militäraktion durfte er einen Monat lang nicht zu seinen Bienenstöcken und auf die Felder. »Der Schaden ist enorm«, sagt er und zeigt auf eine Plastikschale mit Metallstücken. Die Schrapnelle der Raketen aus dem Gazastreifen hatte er während der Operation in seinem Garten und auf den Feldern aufgesammelt. Er habe mindestens 70 Prozent Einbußen hinnehmen müssen. Der Großteil der Ernte in der Nähe des Gazastreifens sei durch die Armeebewegungen mit Panzern und anderen Fahrzeugen zerstört worden.
Die Organisation israelischer Landwirte schätzt den direkten Schaden auf bis zu 20 Millionen Euro. Der Vorsitzende der Bauerngewerkschaft, Dubi Amitai, bestätigt das und fügt hinzu: »Der indirekte Schaden durch die Vernachlässigung der Felder ist bis zu viermal so hoch.« Landwirtschaft sei nicht wie die Industrie. Man könne nicht einfach das Licht anknipsen, und dann gehe es wieder los. »Die Auswirkungen werden bis in den Herbst und Winter reichen, die Verluste verdoppeln und vervierfachen sich.«