Herr Avital, pünktlich zum Frühlingsbeginn sind Sie ab heute auf Deutschlandtournee. Haben Sie Vivaldis »Frühling« auch diesmal mit im Gepäck?
Auf jeden Fall. Vivaldis »Vier Jahreszeiten« bilden das Herzstück dieser Tournee und der Zyklus beginnt auch mit dem Frühling. Er wird mit dem ikonischen Thema, das das Gefühl der Erleichterung und Freude perfekt einfängt, eröffnet.
Was bedeutet Frühling für Sie?
Interessanterweise hatte ich, da ich in Israel aufwachsen bin, nie ein ausgeprägtes Gespür für den Wechsel der Jahreszeiten. Erst als ich nach Europa kam, begann ich zu realisieren, wie zentral die Jahreszeiten für das tägliche Leben sind. Die Emotionen, die jede Jahreszeit hervorruft, die wechselnden Farben der Umgebung, selbst die Stimmungsschwankungen – all das wurde für mich viel greifbarer; und ich fragte mich: Wenn wir dies heute so stark spüren können, wie viel intensiver muss das Erleben der Jahreszeiten vor 300 Jahren gewesen sein, als dieses Stück geschrieben wurde? Besonders in einer Stadt wie Venedig, die auch heute noch so stark vom Wetter abhängig ist, da sie mitten im Wasser erbaut wurde. Das sollte man sich beim Anhören der »Vier Jahreszeiten« im Hinterkopf behalten.
Was wollte uns Vivaldi mit seinem musikalischen Frühling sagen?
Vivaldis Frühling und Herbst sind leicht, malerisch und geradezu humanistisch, während Sommer und Winter dramatische, existenzielle Stücke sind. Sie wirken eher humanistisch als naturalistisch – sie vermitteln ein Gefühl von Angst, Dringlichkeit und Überlebenskampf. Diese extremen Jahreszeiten sind mit einer fast religiösen Frage verbunden und blicken in die Tiefen der menschlichen Seele, während Herbst und Frühling weite, malerischere Landschaften zeichnen.
Was berührt Sie bei diesem Werk am meisten?
Meine Lieblingsjahreszeit bei Vivaldi ist ganz klar der Sommer. Ich erinnere mich, dass ich ihn schon als kleines Kind geliebt habe. Wir hatten eine Schallplatte der »Vier Jahreszeiten« zu Hause, und ohne viel mehr als den Titel des ganzen Stücks zu kennen, verwechselte ich Sommer mit Winter. Rückblickend finde ich das ziemlich faszinierend. Ich konnte als kleines Kind den Sturm, den Vivaldi in diesem Konzert heraufbeschwört, zweifellos hören und spüren. Es ist ein gewaltiger, bedrohlicher und fast apokalyptischer Sommersturm. Aber da ich in Be’er Scheva aufwuchs, wo es selbst im Winter kaum regnet – geschweige denn mitten im Sommer –, konnte ich mir einfach nicht vorstellen, dass so ein Sturm zum Sommer gehören könnte. Deshalb nannte ich ihn als Kind immer Winter. Mit 23 zog ich nach Italien, um in Padua zu studieren. Ich liebte es, Venedig zu besuchen, das nicht weit entfernt war. Ich erinnere mich noch an das erste Mal, als ich in einen dieser plötzlichen venezianischen Sommerstürme geriet – und bis auf die Knochen durchnässt war. In diesem Moment dachte ich mir: Ah-ha! Das hat er gemeint!
Ihnen ist es gelungen, die Mandoline aus dem Dornröschenschlaf zu wecken...
Ja! Ich habe mich vom ersten Moment an in die Mandoline verliebt. Wie jedes Kind, das Saiten berührt, zupfte ich instinktiv daran – und es gab einen Klang. Diese unmittelbare Reaktion faszinierte mich. Ich freue mich natürlich, wenn immer mehr Menschen die Mandoline entdecken. Die Mandoline gibt mir ein Gefühl von Freiheit – sie ermöglicht es mir, etwas Neues zu präsentieren, etwas, das vielen vielleicht noch unbekannt ist. Aber so sehr ich die Mandoline auch liebe, wenn ich in einem Konzert spiele, denke ich darüber nicht nach. Die Mandoline verschwindet beim Musizieren – sie ist einfach das Werkzeug, mit dem ich mich ausdrücke. Letztendlich spiele ich in Gedanken nicht Mandoline. Ich mache Musik.
Sie sind dafür bekannt, dass Sie die Klassik mit der Volksliedtradition musikalisch vereinen. Wo ergeben sich hier Resonanzen?
Ich liebe Musik in all ihren Facetten. Ich habe schon immer gerne verschiedene Genres gehört, getrieben von der Neugier, die Nuancen und zugrunde liegenden Mechanismen zu erfassen, die jeden Stil so großartig machen. Klassische Musik und Volksmusik bilden zwei Extreme. Klassische Musik ist kunstvoll, abstrakt, mit komplexen Strukturen und einem Reichtum an Innovationen. Volksmusik hingegen hat eine Tradition, die sich rein aus eigener Kraft entwickelt hat. Sie trägt tiefe Weisheit in sich – Melodien, die die natürliche Selektion der Musik überdauert hat und über Generationen weitergegeben bzw. durch Begegnungen und Traditionen geprägt wurden. Ich finde beide Welten gleichermaßen faszinierend. Wenn ich sie auf der Bühne zusammenbringe, spüre ich, wie sie die Einzigartigkeit des jeweils anderen erhellen.
Auch jüdisch-orientalische Volkslieder finden sich in ihrem musikalischen Repertoire. Ist das für Sie eine Art musikalisches Zuhause?
Musikalische Heimat umfasst alles, womit ich aufgewachsen bin. Für mich persönlich heisst das, von der Begleitung meines Vaters in die Synagoge mit ihren reichen marokkanischen Melodien bis hin zu den israelischen Liedern im Küchenradio, die allein schon eine unglaubliche Mischung unterschiedlicher Einflüsse darstellen. Musik war Musik, ohne Kategorien stapelte sie sich in diesen unsichtbaren Rucksack, den ich überall mit mir herumtrage. Dieses vielfältige musikalische Umfeld wurde zur Blaupause für den Musiker, der ich heute bin.
Sie stammen aus Be’er Scheva, leben in Berlin und reisen als Musiker um die ganze Welt. Wo gehören Sie hin?
Je älter ich werde, desto stärker spüre ich, dass Heimat nicht unbedingt ein physischer Ort bedeutet, sondern eine tiefe emotionale Bindung. Israel ist meine Seelenheimat – und wird es immer bleiben. Berlin hat mich willkommen geheißen, ich habe es zu meinem festen Ausgangspunkt für die Rückkehr von meinen Tourneen gemacht. Aber meine Heimat ist auch dort, wo mein Kind ist, wo meine Eltern sind. Meine Heimat ist die Bühne beim Musizieren. Meine Heimat sind die Orte, an denen sich die Geschichten meiner Vorfahren abspielten, auch wenn ich dort nie einen Fuß hingesetzt habe.
Wie ist es für Sie, mit diesem musikalischen Rucksack in Israel aufzutreten?
Das letzte Mal, als ich in Israel spielte, war im Januar, anlässlich meines Projekts »Avital Meets Avital« an der Seite des Jazzmusikers Omer Avital. Es war das erste Mal seit dem 7. Oktober 2023, dass ich zurückgekehrt bin. Ich wusste, dass das Publikum, um in den Musiksaal zu gelangen, die intensiven wöchentlichen Samstagabenddemonstrationen für einen Waffenstillstand und die Freilassung der Geiseln durchqueren musste. Ich wusste, dass es nur wenige Minuten vor meinem Konzert den Kikar HaHautfim (Geiselplatz) überqueren musste, vorbei an einem Meer von Plakaten mit den Gesichtern derer, die noch immer in Gaza gefangen gehalten werden. Ich wusste auch, dass sich unter ihnen Menschen befanden, die ihre Kinder, ihre Geschwister beim Massaker vom 7. Oktober verloren hatten. Ich betrat also die Bühne, ohne zu wissen, ob und wie das überhaupt funktionieren würde – wie Musik in diesem Moment existieren konnte. Doch schon nach dem ersten Stück war der Applaus frenetisch, ein Applaus wie am Ende eines Konzerts. Und in diesem Moment verstand ich: Musik ist heilsam. Die Menschen in diesem Saal brauchten Heilung. Auch ich brauchte Heilung. Es war eines der intensivsten Konzerte, das ich je gespielt habe. Ständig flossen Tränen. Es war, als ob alle – auf der Bühne und im Publikum – völlig nackt waren, eingetaucht in einen gemeinsamen Raum nicht nur der Trauer, sondern auch der Befreiung, der tiefsten Emotionen.
Musik dient als Brückenbauerin. Spüren Sie als israelischer Künstler auch jenseits der Bühne die unterschiedlichen Ansichten und den politischen Diskurs anlässlich des Kriegs?
Das ist eine sehr schwierige Frage. Selbst wenn wir gerade eine sehr aufreibende Zeit durchmachen, ist das, was für mich als verlässlich gilt – die Tatsache, dass Musik niemals lügen kann. Denn sie kennt keine Worte. Das ist der beste Beitrag, den ich als Musiker liefern kann. Der Wert von Wahrheit wird ständig in Frage gestellt. So bleibt mir nichts anderes, als Musik zu machen.
Mit dem israelischen Mandolinisten Avi Avital sprach Nicole Dreyfus.