Wenig anderes steht derzeit in derart schlechtem Ruf wie Nationalismus. Er ist verantwortlich für Rassismus, Intoleranz und Krieg, und nur seine Überwindung führt zu Frieden und Völkerverständigung. Diese landläufige Meinung stellt der israelische Philosoph und Bibelwissenschaftler Yoram Hazony in seinem neuen Buch The Virtue of Nationalism (Die Tugend des Nationalismus) massiv infrage – und zwar aus dezidiert konservativer und zionistischer Perspektive.
Hazony, Direktor des Herzl Institute in Jerusalem, wuchs in dem Bewusstsein auf, dass Israel nur als unabhängiger Nationalstaat existieren kann, der seine Angelegenheiten selbst regelt und seine Souveränität nicht an supranationale Institutionen abgibt. Seine Großeltern waren in den 20er- und 30er-Jahren ins damalige Palästina gekommen, um einen unabhängigen jüdischen Staat zu gründen und nicht mehr auf die Duldung Dritter angewiesen zu sein. Diese nationale Unabhängigkeit gilt es ihm heute dringend zu bewahren – und dieses Recht spricht er auch jedem anderen Staat der Welt zu.
Denn die Welt ist für Hazony dann am besten regiert, wenn Nationen ihren unabhängigen Weg gehen können, ihre eigenen Traditionen pflegen und ihre eigenen Interessen verfolgen. Das nämlich ist Hazonys Definition von »Nationalismus«, die nichts mit aggressivem Chauvinismus und Überlegenheitsdünkel zu tun hat. Mit diesem Begriff bezeichnet er schlicht die Ansicht, dass die beste internationale Ordnung eine ist, die aus vielen unabhängigen Nationalstaaten besteht. Man kann in Hazonys Sinne also auch dann Nationalist sein, wenn man dem jeweils eigenen Land keine besonders leidenschaftlichen Gefühle entgegenbringt. Deshalb vermeidet er auch das vermeintlich freundlichere Wort »Patriotismus«, zum einen, weil es die Sache nicht trifft, zum anderen, weil Hazony Euphemismen ganz und gar nicht mag.
BIBEL Aus diesem Grund lehnt er auch Bezeichnungen wie »liberaler Internationalismus«, »Globalismus« oder »internationale Gemeinschaft« für die Gegenposition zum Nationalismus ab. Das alles sind für ihn Euphemismen für den schlechten alten Imperialismus, der heute bloß im liberalen Gewand daherkomme. Heutige Imperialisten wollen die Welt nach liberalen Prinzipien ordnen, übersehen aber, dass es sich dabei um spezifisch europäische Werte handelt, die vor allem in England, den Niederlanden und Amerika unter bestimmten historischen Bedingungen entwickelt wurden und die man niemandem gegen seinen Willen aufzwingen kann.
Die Wurzeln der Nationalstaatsidee liegen in der Hebräischen Bibel.
Die Wurzeln der Nationalstaatsidee, das ist die besondere Pointe des Buches, macht Hazony in der Hebräischen Bibel, der Tora, aus. Die antike biblische Welt wurde von Imperien dominiert: Ägypten, Babylonien, Assyrien, Persien. Der göttliche Bund mit dem Volk Israel war dagegen dezidiert partikularistisch und antiimperialistisch: Die Israeliten sollten ihr eigenes Stück Land haben und dort ihre eigenen Angelegenheiten regeln. Sie sollten nicht von fremden Mächten beherrscht werden und auch selbst keine Nachbarländer erobern. Sie sollten innerhalb ihrer eigenen Grenzen für gerechte Gesetze sorgen, und die Könige und Priester sollten dem eigenen Volk entstammen, weil sie dessen Sorgen und Nöte am besten verstünden.
Die christliche Kirche löste sich von ihren biblischen Wurzeln, als sie römische Staatsreligion wurde und die römische Idee des Imperiums übernahm – nur sollte es jetzt ein katholisches Imperium sein. Erst mit der Reformation wurde der Alleinvertretungsanspruch der katholischen Kirche infrage gestellt; vor allem nordwesteuropäische Länder sagten sich vom Universalismus Roms los. Gleichzeitig wurde in den protestantischen Gegenden Europas, angestoßen durch die Erfindung der Druckerpresse und Bibelübersetzungen in den jeweiligen Landessprachen, die Hebräische Bibel wiederentdeckt und damit die Tradition der nationalen Unabhängigkeit.
LABORATORIUM Der Dreißigjährige Krieg (1618–1648) wird meist als Religionskrieg verstanden, für Hazony war es aber vor allem ein Krieg der aufkommenden Nationalstaaten Frankreich, Niederlande und Schweden gegen deutsche und spanische Truppen, die das katholische Imperium aufrechterhalten wollten. Im Westfälischen Frieden wurde schließlich das beschlossen, was Hazony als die Protestantische Ordnung bezeichnet: ein System unabhängiger Staaten, die sich nicht in die inneren Angelegenheiten der jeweils anderen einmischen. Republiken und Monarchien, katholische und protestantische Staaten mussten einander nun tolerieren und konnten ihre Werte nicht einfach anderen überstülpen. Auf diese Weise wurde Europa, so Hazony, zu einem Laboratorium, in dem verschiedene Formen staatlicher Organisation ausprobiert werden konnten. Das Ergebnis, so folgert er, sind jene Freiheiten und Institutionen, die wir heute mit dem Begriff des Westens in Verbindung bringen.
Doch die alte Protestantische Ordnung ist heute einem postnationalen Denken zum Opfer gefallen. Besondere Sorge bereitet es dem Autor, dass Israel immer mehr ins Fadenkreuz derjenigen gerät, die Grenzen und nationale Selbstbestimmung für überflüssig halten. Die regelrechten Hasskampagnen, denen Israel ausgesetzt ist, haben für Hazony dabei nichts mit konkreten Aktionen des Staates zu tun, sondern mit dem veränderten Paradigma, mit dem vor allem Europäer auf die Welt blicken: das Paradigma einer postnationalen Menschheit.
Europäer und Israelis hätten aus der Nazizeit völlig unterschiedliche Konsequenzen gezogen. Für Juden war klar, dass nur ein eigener Staat und eine eigene Armee ein zweites Auschwitz würden verhindern können. Liberale Europäer hingegen halten Auschwitz für die Folge nationaler Alleingänge.
Doch Auschwitz war, erklärt Hazony, keineswegs eine Folge der nationalstaatlichen Ordnung. Diese wollte Hitler vielmehr abschaffen und durch ein deutsches Imperium ersetzen. Das erklärt sich für ihn aus der deutschen Geschichte: Deutsche hatten historisch kaum Erfahrung mit nationaler Einheit und Unabhängigkeit – anders als etwa Briten, Franzosen oder Niederländer. Diese fürchteten im Zweiten Weltkrieg wiederum nicht so sehr den Nationalismus der Deutschen (sie waren ja selbst meist Nationalisten), sondern vielmehr deren Imperialismus – das Ziel, Europa unter deutscher Vorherrschaft zu vereinigen.
RESSENTIMENT Und genau dieses Ziel verfolge heute die Europäische Union: Die Nationalstaaten geben ihre Souveränität zugunsten überstaatlicher Institutionen auf. Und weil das für Länder mit einer stolzen nationalen Tradition aber doch ein schmerzlicher Verlust ist, entstehen Ressentiments gegen diejenigen, die eben nicht bereit sind, ein solches Opfer zu bringen: allen voran die Israelis, aber mittlerweile auch die Visegrád-Staaten, die keine muslimischen Einwanderer aufnehmen wollen, die Briten, die für den Brexit gestimmt haben, und die USA unter Donald Trump, der die Interessen seines eigenen Landes vertritt, statt Welterlösungspläne zu hegen. Sie alle werden heute von wohlmeinenden Europäern mit allen erdenklichen Invektiven bedacht, bis hin zum Faschismusvorwurf.
Israel gerät ins Kreuzfeuer heutiger Anti-Nationalisten.
Solche Rhetorik ist Hazony ein Beleg dafür, dass Hass und Intoleranz heute nicht so sehr von Nationalisten, sondern vor allem von liberalen Internationalisten ausgehen, die es nicht ertragen können, wenn sich jemand ihrer universalistischen Vision in den Weg stellt. Waren für den katholischen Universalismus das Feindbild die Juden, die sich der christlichen Heilsbotschaft verweigerten, sind es heute Länder wie Israel, die stur auf ihrem nationalen Selbstbestimmungsrecht beharren.
Die Tugend des Nationalismus besteht für Yoram Hazony hingegen darin, dass er in seinen Ansprüchen bescheidener ist, sich nicht anmaßt, über eine allgemeingültige Wahrheit zu verfügen, und in der Lage ist, neben der eigenen auch den Wert anderer Kulturen und Traditionen anzuerkennen. Moses, der sein Volk in das Gelobte Land führte, ist von menschlicherem Maß als Immanuel Kant, der vom Ewigen Frieden unter einer Weltregierung träumte.
Yoram Hazony: »The Virtue of Nationalism«. Basic Books, New York 2018, 304 S., 30 US-$