Zu viel geschieht dieser Tage vor der eigenen Haustür: die Besetzung und Räumung eines palästinensischen Hauses in Hebron, Bomben aus dem Sinai auf Eilat. Richtig große Schlagzeilen machte Günter Grass am Donnerstagmorgen nicht. Doch vernommen hat man die jüngsten Zeilen des deutschen Literaturnobelpreisträgers auch in Israel. In sämtlichen Tageszeitungen war sein Gedicht »Was gesagt werden muss« ein Thema.
Am Nachmittag dann äußerte sich Premierminister Benjamin Netanjahu: »Günter Grass‹ Vergleich zwischen Israel und dem Iran ist moralisch beschämend. Es ist der Iran, nicht Israel, der den Frieden und die Sicherheit in der Welt gefährdet.« Teheran leugne den Holocaust und drohe Israel mit der Vernichtung, unterstützt Terror und Syriens Regime beim Massaker der eigenen Landsleute. »Sechs Jahrzehnte lang hat Herr Grass die Tatsache verschwiegen, dass er Mitglied der Waffen-SS war. Dass er sich hinstellt und den einzigen jüdischen Staat als größte Bedrohung des Weltfriedens bezeichnet, ist vielleicht nicht so verwunderlich.«
Haaretz Die links-liberale Tageszeitung Haaretz hat den Grass-Eklat mit einem Kommentar des Historikers und Journalisten Tom Segev auf ihre erste Seite gehoben. »Sein Vergleich zwischen Israel und dem Iran ist unfair, schließlich hat Israel niemals damit gedroht, ein anderes Land von der Karte zu eliminieren.« Und anders als in Grass’ frömmelnden Zeilen, schreibt Segev weiter, würde selbst eine militärische Aktion gegen Teheran in keinem Fall zu einer »Ausrottung des iranischen Volkes« führen, sondern lediglich die Atomanlagen ins Visier nehmen.
Insgesamt hält Segev die Ergüsse des Deutschen eher für pathetisch als antisemitisch. Auch seien sie nicht besonders anti-israelisch. Allerdings hätte das Gedicht nicht einmal aufklärerischen Wert, so der Kommentator, denn über Israels Atomanlagen existierten bereits Tausende von Websites im Internet. Man könne sich somit der Vermutung nicht erwehren, dass Grass mit dem »Brechen seines Schweigens« nichts anderes wolle, als Schockwellen erzeugen. »Wie damals vor sechs Jahren, als er mit seiner Mitgliedschaft in der Waffen-SS herausrückte.«
Als positiv hingegen wird die breite Kritik der deutschen Medien und Politik am Gedicht bewertet. »Es ist gut, dass die Deutschen heute nicht mehr schweigen«, betont Soziologin Chamoutal Gatt. »Dass ein Schriftsteller so etwas äußert, kann man ihm nicht verbieten. Auch wenn es der größte Unfug ist. Entscheidend ist, wie die Post-Nazi-Gesellschaft im Land damit umgeht. Und es ist sehr beruhigend, zu sehen, dass die Kritik so prompt und von allen Seiten kommt.« Diese Tatsache werde das deutsch-israelische Verhältnis nicht schwächen, ist Gatt sicher, »sondern im Gegenteil stärken«.