»In jedem Zeitalter ist der Mensch verpflichtet, sich vorzustellen, er sei selbst aus Ägypten ausgezogen«, heißt es in der Haggada. Die traditionelle Erzählung der Befreiung aus der Sklaverei lesen Juden in aller Welt am Pessachabend. Rund 93 Prozent der jüdischen Israelis feiern einer Umfrage des Pew Research Center zufolge das Fest und sitzen beim Seder zusammen. Doch wie viele von ihnen glauben, dass sich die biblische Geschichte wirklich so zugetragen hat?
Zahlreiche israelische Archäologen und Bibelwissenschaftler zweifeln daran, dass die Israeliten damals überhaupt in Ägypten waren, dass die Geschichte der Zehn Plagen authentisch ist und Mosche die Kinder Israels in die Wüste Sinai geführt hat. Der israelische Archäologieprofessor Israel Finkelstein beispielsweise meint, dass es sich nicht um historische Ereignisse, sondern um eine »kulturelle Gedächtnisgeschichte« handelt.
ÜBERZEUGUNG Professor Joshua Berman von der Bar-Ilan-Universität in Ramat Gan hingegen hat wenig Zweifel: »Ich und viele meiner Kollegen sind der Überzeugung, dass es gute Gründe und auch archäologische Belege dafür gibt, dass die Israeliten als Sklaven in Ägypten waren und dass es ein Ereignis der Befreiung gab.«
Berman räumt zwar ein, dass es in der ägyptischen Überlieferung keinen Hinweis auf die Flucht von Hunderttausenden Sklaven oder die Vernichtung ägyptischer Truppen im Schilfmeer gebe. Doch nur danach zu suchen, sei »die falsche Herangehensweise«, meint Berman.
Die Ägypter hätten in ihren historischen Quellen nur die heldenhaften Geschichten überliefert. Zudem sei der größte Teil der auf Papyrus geschriebenen Texte des antiken Ägypten im Laufe der Zeit verloren gegangen, aus der Region des östlichen Nil-Deltas – also dem »Eretz Goschen«, wo die israelitischen Sklaven gesiedelt haben sollen – sei überhaupt nichts erhalten.
KONFLIKT Grundsätzlich sieht Berman einen Konflikt in der Bibelforschung, er spricht sogar von einem »Kulturkampf« liberaler und konservativer Kräfte. Berman ist Professor, zugleich orthodoxer Rabbiner. Er findet die Methode mancher Wissenschaftler falsch, die antike Texte anderer nahöstlicher Kulturen als historisch betrachten, doch dem Text der hebräischen Bibel nicht folgen wollen. Er suche vielmehr nach Bezügen des biblischen Inhalts zu außerbiblischen Quellen.
So hat er sich auch jahrelang mit der Geschichte des Auszugs aus Ägypten beschäftigt. Berman kommt zu dem Schluss: »Wir haben hier einen biblischen Text, der einige Aspekte der Realität des antiken Ägypten darstellt.«
Ein Beispiel: Im biblischen Text ist mehrfach davon die Rede, dass Gott mit »starker Hand« und »ausgestrecktem Arm« agiert habe. »Und auch, wenn von vielen Wundern berichtet wird, die Gott vollbringt, wird diese Formulierung in der Tora fast ausschließlich im Zusammenhang mit dem Exodus verwendet.«
Das sei kein Zufall, ist Berman überzeugt. »Wenn wir in die ägyptischen Quellen aus der Zeit des 15. bis 12. Jahrhunderts v.d.Z schauen, heißt es dort, dass die Pharaonen alles, was sie in dieser Zeit taten, mit starker Hand und ausgestrecktem Arm vollbrachten. Die Pharaonen selbst wurden sogar als ›starke Hand‹ bezeichnet.« In keiner anderen nahöstlichen Kultur seien die Herrscher so beschrieben worden.
Der Forscher hat Bezüge des Toratextes zu ägyptischen Erzählungen festgestellt.
Professor Berman hat weitere Bezüge des Toratextes zu ägyptischen Erzählungen festgestellt, insbesondere im Zusammenhang mit dem Kampf der Ägypter gegen ihre Erzfeinde, die Hethiter, im Jahr 1274 v.d.Z. Einiges, was über den Auszug der Israeliten aus Ägypten in der Tora zu lesen sei, entspreche der Kriegserzählung von Ramses II., der damals in Kadesch den Sieg errang. Der Pharao ließ das Kampfgeschehen auf zahlreichen Stelen darstellen, von denen heute noch zehn erhalten sind.
ÄHNLICHKEITEN Dort sind unter anderem verblüffende Ähnlichkeiten zwischen der Struktur des königlichen Militärzeltes von Ramses II. und dem Mischkan, dem Heiligtum der Israeliten in der Wüste, zu entdecken. Nicht nur die Bauweise, die Anordnung des Zeltes, sogar das Symbol der königlichen Macht, der damals stärksten Macht der Welt, die mit ausgespritzten Flügeln geschützt wird, ähnelt den Cherubim im Stiftszelt.
Bei den Inschriften der Stelen fielen Berman noch weitere Parallelen auf, beispielsweise zum »Schilfmeer-Lied« der Tora: In den jeweiligen Texten sind die Ägypter wie später die Israeliten auf dem Weg, nicht auf einen Kampf eingerichtet, werden von starken Truppen in Streitwagen angegriffen.
In beiden Geschichten wenden sich die Bedrängten an ihren jeweiligen Gott. Ramses betet zu Amun, Moses zum Gott der Israeliten. Beide erhalten die Anweisung, vorwärtszugehen, Vertrauen zu haben. Schließlich enden die feindlichen Truppen im Wasser, die Hethiter im Fluss, die Ägypter im Meer. Niemand überlebt. In beiden Geschichten widmen die Geretteten ihrem Gott eine Lobrede oder einen Lobgesang, beide mit sehr ähnlichem Inhalt, heben die Macht und die Stärken des Retters hervor.
BEWEIS »Wenn also die Tora so vertraut ist mit diesem Text, erscheint doch die Annahme logisch, dass Israeliten in dieser Zeit in Ägypten waren«, ist Berman überzeugt. Dies beweise nicht, dass sich das Meer geteilt habe, es beweise nicht, dass sich die Zehn Plagen so zugetragen hätten. »Aber es beweist, dass die Israeliten in Ägypten waren und dort etwas mit ihnen geschah, was sie ihrem Gott zuschrieben.«
Bleiben Zweifel? Eine klare Beweisführung könne es vielleicht in der Mathematik oder bei den Rechtswissenschaften geben, aber selten in der biblischen Forschung. Hier gehe es mehr um Plausibilität als um Beweise, meint Professor Joshua Berman. Doch ist er überzeugt: Wenn sich Juden in aller Welt am Pessachabend versammeln und die Befreiung aus der Sklaverei feiern, können sie die Worte aus der Haggada »Einst waren wir Knechte des Pharaos in Ägypten« mit vollstem Vertrauen lesen: »Sie haben eine plausible Interpretation der Beweise auf ihrer Seite.«