Juli lacht und drängelt sich vor. »Ich will noch einmal gucken«, ruft sie und versucht, Raz vom Stuhl zu schubsen. »Juli, du warst schon dran. Lass auch die anderen an die Reihe. Nun schaut Raz sich die Hefe an«, mahnt die Kindergärtnerin Dani. Sechs Kinder stehen Schlange, um nacheinander einen Blick durch das Mikroskop zu werfen. Seit ein paar Tagen züchtet die Gruppe Hefezellen.
»Wir lassen sie wachsen, wir betrachten sie unter dem Mikroskop, und dann backen wir mit der Hefe«, erklärt Dani. In den offenen Regalen hinter ihr stehen Setzkästen mit Steinen, Blättern, Sand und Insekten in Einmachgläsern. Daneben Baukästen in rot, grün und blau; darüber Schrauben, Isolierband, Zangen.
»Für den Biologieunterricht gehen wir meist in den Wald und lassen die Kinder sammeln, was ihnen gerade zwischen die Finger kommt. Dann sortieren, untersuchen und klassifizieren wir«, erklärt Matan Sokel. Der 34-Jährige ist einer der Leiter des Projekts MadaKids, das Kinder mit Naturwissenschaften vertraut machen soll.
Bildungsinitiative Doch Chemie und Biologie sind bei MadaKids nicht genug. Mit der Unterstützung des amerikanischen Rüstungs- und Technologiekonzerns Lockheed Martin sowie der Bildungsinitiative Beit Yatziv und der Rashi-Stiftung eröffnete MadaKids vor zwei Jahren Israels ersten »Hightech-Kindergarten« in der Wüstenstadt Beer Sheva.
Physik, Programmieren oder Robotik – die Kinder spielen hier lieber mit Codes statt mit Bauklötzen. Sie bauen Roboterarme statt Lego, sie machen Chemie-Experimente statt Schlammschlachten. »Unser größtes Potenzial liegt in unseren Köpfen«, soll schon Staatsgründer Ben Gurion über die israelische Gesellschaft gesagt haben. Kein Wunder, dass die Regierung mit unzähligen Förderprogrammen versucht, den Status als »Silicon Wadi« aufrechtzuerhalten. Gerade bei MadaKids wird deutlich: Hier soll eine Generation von Wissenschaftlern großgezogen werden, die die Start-up-Nation zum sicheren Vorreiter in Sachen Hightech und Cybertechnologie machen soll.
Außer der Hightech-Kindertagesstätte in Beer Sheva wurde im letzten Jahr auch eine in dem kleinen Dorf Kirjat Malachi südlich von Tel Aviv eröffnet. Beide Einrichtungen sind mit Laptops, Coding-Software für Anfänger, Roboter- und Chemie-Equipment ausgestattet. Die Kinder sollen ein grundsätzliches Verständnis für Technik und Wissenschaft entwickeln: Warum fällt ein Stein schneller zu Boden als eine Feder? Warum schmilzt mein Eis im Sommer? Und was macht eigentlich ein Algorithmus?
Sozialkompetenz »Wir üben sogar einfache Codiersprache. Und lehren, keine Angst davor zu haben«, erklärt Matan. Er selbst ist Ingenieur für Robotik. Gemeinsam mit den Kindern bastelt er am liebsten an mechanischen Roboterarmen, macht Chemie-Experimente zum Thema Klimawandel oder baut elektrische Schaltkreise. »Das Wichtigste dabei ist, dass wir es locker angehen. Wir wollen nicht abschrecken, sondern Spaß haben«, sagt Matan. Man wolle Berührungsängste abbauen, sodass es eines Tages ganz normal für die Kinder ist, mit Maschinen zu interagieren.
Wenn Matan von seiner Arbeit spricht, fällt immer wieder der Name Joseph Renzulli. Die Lehren des amerikanischen Erziehungspsychologen bilden den Grundstein für Beer Sheva und Kirjat Malachi. Renzulli entwickelte ein Modell zur Förderung hochbegabter Kinder und argumentierte, dass Menschen mit außergewöhnlichem Potenzial ihre Talente nur dann entwickeln können, wenn ihr Umfeld dies fördert.
Es muss zumindest über den normalen Lego-Baukasten hinausgehen, findet Maya Lugassi Ben Hamo. Die Direktorin der Abteilung für Pädagogik bei Beit Yatziv hat viel Zeit und Mühe darauf verwendet, die theoretischen Grundlagen des Programms zu entwerfen. Neben Renzulli stütze man sich auf die Havruta-Lernmethode (hebräisch für Freundschaft oder Kameradschaft) aus jüdischen Bibelschulen.
Dabei analysiert eine sehr kleine Gruppe, in der Regel zwei bis fünf Schüler, einen Text gemeinsam mit dem Rabbi. »Diese Art des Lernens ist tief im Judentum und unserer Kultur verwurzelt«, erklärt Maya. Und bei dieser Art Austausch bestehe nicht das Gefälle zwischen Lehrer und Schüler: »Laut der Lehrer in den Grundschulen zeigen unsere Kinder im Vergleich zu ihren Klassenkameraden bessere motorische Fähigkeiten sowie eine unbeschwerte Herangehensweise an naturwissenschaftliche Fragen. Und durch die konstante Arbeit in der Gruppe wurde ihnen außerdem eine gute Sozialkompetenz bescheinigt.«
Weckruf Vor dem Hintergrund der Technisierung der Gesellschaft erscheinen Israels Hightech-Vorschulen wie ein Weckruf. Glaubt man einer Studie der Universität Oxford, werden in 25 Jahren 47 Prozent der herkömmlichen Berufe verschwunden sein und stattdessen von Robotern und Künstlicher Intelligenz erledigt. Es scheint der einzige Ausweg zu sein, den Nachwuchs früh mit dieser Welt vertraut zu machen.
Auch Kindergärten in Europa gehen mit kleinen Schritten voran. In Deutschland ist die Stiftung »Haus der kleinen Forscher« federführend. Gefördert vom Bundesministerium für Bildung und Forschung nahmen bereits über 25.000 Kitas und Grundschulen an dem Fortbildungsprogramm teil.
Sollten wie in Israel auch Fächer wie Computertechnologie oder Robotik aufgenommen werden, müssten sich die Gehälter und die Ausbildung der Erzieher ändern. Maya von Beit Yatziv weist darauf hin, dass hier die größten Herausforderungen liegen: »Die Arbeit mit den Kindern lief bisher reibungslos. Die Erwachsenen sind schwieriger.« Schon jetzt müssen die Pädagogen bei Beit Yatziv ein Trainingsprogramm durchlaufen und ihr Profil schärfen. Haben sie einen Abschluss in Biologie? Welche Software beherrschen sie?
»Die gesamte Erziehung wird einen starken Wandel durchleben«, prophezeit Matan. Das werde sicher auch Hand in Hand mit Robotern und Computern geschehen. »Und gerade deswegen ist es wichtig, Kinder bereits zu Entwicklern und Machern zu erziehen, sodass sie sich völlig frei in dieser neuen Welt bewegen können.«