Er sehe es noch genau vor sich, erzählt Avi Ramat – wie der ältere Herr im Rollstuhl vor Freude weinte und ihm die Hand drückte. »Er sei so froh, sagte er, dass er trotz seiner Behinderung nun die Grabeskirche besuchen konnte«, erinnert sich Ramat. »Da wusste ich, wie wichtig – speziell in Jerusalem – unser Projekt wirklich ist.«
Avi Ramat ist einer der Gründer der Organisation Shekel, die sich seit 1979 für die Verbesserung der Lebenssituation von Behinderten in Israel einsetzt und seit 2007 daran arbeitet, die Altstadt Jerusalems barrierefrei zu gestalten.
Bereits 2005 hatte die Regierung versprochen, die Altstadt so zu gestalten, dass allen Touristen der Besuch der heiligen Stätten ermöglicht und die Infrastruktur für die Anwohner verbessert wird. Zwei Jahre später wurden sowohl die Stadtverwaltung als auch Ramats Organisation involviert. 20 Millionen Schekel, umgerechnet rund fünf Millionen Euro, wurden 2012 für dieses Projekt bereitgestellt. »Für Rampen, Geländer, Blindenschrift sowie die Stabilisierung von Straßen und Bürgersteigen«, erläutert Ramat.
Synagogen Jerusalem ist hierbei Teil eines größeren Plans, der 2012 von der Knesset verabschiedet wurde. Demnach sollen binnen fünf Jahren alle öffentlichen Gebäude in Israel so gebaut sein, dass sie ohne jegliches Hindernis für jeden betretbar sind. Bibliotheken, Museen, Ämter, Banken, Synagogen und Theater werden seitdem Schritt für Schritt umgestaltet. Auch Privatunternehmen – Supermärkte, Kinos, Kneipen – sind verpflichtet, bis Ende dieses Jahres barrierefreie Zugänge zu schaffen, und in Synagogen müssen mindestens zehn Prozent der Gebetbücher in extra großer Schrift gedruckt sein.
In Jerusalem ist ein solcher Plan jedoch gar nicht so leicht umzusetzen. Vor rund 3000 Jahren soll Salomo hier den ersten Tempel gebaut haben – der Stadtkern ist alt, die Gassen sind eng, die Straßen hügelig. Jahrtausendealte Pflastersteine, baufällige Treppensteige, marodes Baumaterial. Jedes Fleckchen der Stadt ist bewohnt oder voller Touristen. »Es ist einer der am dichtesten besiedelten Orte der Welt, und die meisten Einwohner hier sind nicht besonders offen für Veränderungen«, klagt Ramat. Seit 1977 setzt er sich für die Belange Behinderter ein, seit 1999 konzentriert er sich voll darauf, die Infrastruktur für Behinderte in ganz Israel zu verbessern.
Vorbild Altstädte sind dabei besonders komplex. Meist über Jahrhunderte oder Jahrtausende gewachsen, sind sie verwinkelt gebaut, und viele Gebäude oder Sehenswürdigkeiten sind unantastbar. Als Vorbild schaue er oft nach Brügge in Belgien oder nach Barcelona in Spanien; dort habe man die Altstädte für jeden zugänglich gemacht.
In Jerusalem gehe der Arbeitsprozess jedoch nur schleppend voran; meist müsse man über jedes Geländer mit den jeweiligen Nachbarn tagelang streiten und diskutieren. »Als wir eine Befestigung der Bürgersteige in einem Teil des muslimischen Viertels anstrebten, mussten wir zuerst mit allen Anwohnern verhandeln«, er-zählt der 66-Jährige. In Jerusalem sei alles erst einmal unbeweglich; Veränderungen seien in dieser spannungsgeladenen Stadt zunächst mit Furcht und Misstrauen verbunden. Dabei seien die meisten Betroffenen am Ende froh, wenn die Wege nicht mehr beschwerlich sind.
Doch vor allem herrscht die Angst, der Status quo könnte irgendwie angezweifelt werden; jeder, der sich in dieser Altstadt ein Fleckchen erkämpft hat, betrachtet jegliche Intervention mit Skepsis. »Alles in Jerusalem ist erst einmal politisch. Sogar eine Rampe für einen Rollstuhl«, seufzt Avi Ramat.
Umdenken Dabei ist es für die Hauptstadt Israels höchste Zeit umzudenken, will man nicht gänzlich hinter dem »Silicon Wadi« rund um Tel Aviv verschwinden. Die Wolkenkratzerstadt am Mittelmeer investiert unaufhörlich in die Ent- wicklung der Infrastruktur: 2014 wurde Tel Aviv beim Smart City Expo World Congress in Barcelona zur »World’s Smartest City« gekürt. Freies WLAN überall in der Stadt, »Smart Parking«, ein Online-GPS-Mapping-System der Stadtverwaltung, Cityräder, Car-Sharing und eine intelligente App, mit der Mitglieder Events, Verkehrsstaus und Sonderangebote zur jeweiligen Uhrzeit ausfindig machen können, sind nur einige der Funktionen, mit der Tel Aviv das »Internet der Dinge« auf Stadtebene hebt. Fahrradwege werden ausgebaut, Bürgersteige abgesenkt, die U-Bahn soll bis 2021 fertiggestellt sein.
In Jerusalem hingegen könne man keinerlei Aussage machen, wann man mit einer Arbeit fertig werde, bedauert Avi Ramat. Zu oft habe es in der Vergangenheit Verzögerungen gegeben. »Wir müssen uns immer wieder auf neue Gegebenheiten einstellen. Dies ist kein Ort, an dem man einen konkreten Plan machen und dann auch einhalten kann.«
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