Wilde Perücken und bunte Verkleidungen statt medizinischer Gesichtsmasken: Während unter einigen Gesundheitsexperten die Sorge vor einer sechsten Corona-Welle umgeht, ist Israel fast wieder zum Alltag zurückgekehrt. Vergangene Woche feierten die Menschen Purim-Partys mit Hunderten von Gästen. Es wurde getanzt, gesungen und geküsst, als hätte es die Pandemie nie gegeben.
Doch könnten sich jene, die die Rückkehr zur Normalität preisen, zu früh gefreut haben? Laut Daten des Gesundheitsministeriums breitet sich das Coronavirus SARS-CoV-2 in Israel weiter aus, obwohl die Zahl der schweren Fälle bislang stabil bleibt. Der R-Wert, der zeigt, wie viele Personen ein Infizierter ansteckt, erreichte am Dienstag 1,33 – nachdem er zwei Monate lang unter eins gelegen hatte. Liegt er längere Zeit über eins, steigt die Zahl der Neuinfektionen.
Omikron »Auch ich möchte natürlich, dass mit der Pandemie Schluss ist«, gibt Cyrille Cohen, Epidemiologe von der Bar-Ilan-Universität und Mitglied des Beratungskomitees im Gesundheitsministerium in Sachen Impfungen, zu. »Tatsache aber ist: Sie ist nicht vorbei.« Für die Wahrnehmung, dass »Corona hinter uns liegt«, gebe es mehrere Gründe.
»Zum einen der Rückgang der positiven Fälle und zum anderen, weil die Omikron-Variante als weniger gefährlich angesehen wird«, erläutert er. Beides sei korrekt, jedoch müsse man beachten, dass durch Omikron 1500 bis 2000 Menschen in Israel gestorben seien. Zudem habe der Krieg in der Ukraine die Schlagzeilen abgelöst.
Cohen weiß, dass 30 bis 50 Prozent der Israelis mit Omikron infiziert waren. Eine weitere Ebene des Schutzes seien die Impfungen.
Zwar sei die Lage durch Omikron, Impfungen und Behandlungsmöglichkeiten mittlerweile viel besser, jedoch nicht stabil. »Was wir erreichen wollen, ist eine Situation, die mehr oder weniger einer Grippe ähnelt«, so Cohen. »Da wissen wir, dass es eine Saison gibt, meist von September bis Februar, dass gefährdete Menschen geimpft werden sollten und sich mehr Patienten in den Krankenhäusern befinden. Weil wir all dies wissen, können wir es managen. Da wollen wir mit Corona hin.« Doch die Stabilität hänge sehr von der Art der Variante ab, die man bekämpft.
Herdenimmunität Trotzdem ist der Epidemiologe zuversichtlich: »Ich gehe davon aus, dass 2022 ein besseres Jahr werden wird.« Denn er weiß: »Je mehr Menschen infiziert werden, desto besser sind wir geschützt.« Also doch Herdenimmunität? »Ja, darauf läuft es hinaus.« Viele verstünden den Begriff jedoch falsch, denn es ginge nicht darum, dass junge Menschen infiziert werden sollen, um Ältere zu schützen. Stattdessen spielt der Grad der Immunität in der Bevölkerung eine Rolle, denn ist der hoch genug, kann das Virus nicht mehr von einer Person zur nächsten übergehen.
Der Immunologe führt aus: »Es gibt Herdenimmunität etwa für Polio und Masern, allerdings nicht für die Grippe, da sich dieses Virus ständig verändert.« Gleichwohl existiere ein gewisses Maß an Schutz innerhalb der Bevölkerung, weil sich fast jeder schon einmal angesteckt hat und das Virus trotz Mutationen auch identische Charakteristika hat. »So gehen wir auch beim Coronavirus davon aus, dass ein gewisser Schutz existiert.«
Cohen weiß, dass 30 bis 50 Prozent der Israelis mit Omikron infiziert waren. Eine weitere Ebene des Schutzes seien die Impfungen. »Die meisten gefährdeten Menschen in Israel sind drei- oder viermal geimpft. Zwar verhindert dies die Übertragung nicht effektiv, aber die Vakzine sind äußerst wirkungsvoll dabei, keinen schweren Verlauf der Krankheit entstehen zu lassen. Also meine ich nicht, dass es in den nächsten Monaten Zahlen von Kranken geben wird, wie wir sie bei der letzten schweren Welle gesehen haben.«
Nachtklubs Zugleich hebt er hervor, dass die Zahl der positiven Fälle lediglich ein Indikator sei. Für die Einschätzung einer Welle sei von größerer Bedeutung, wie viele Patienten in Krankenhäuser müssten. »Das sollte unsere Handlungen bestimmen.« Die Politik der israelischen Regierung, das öffentliche Leben so funktionsfähig wie möglich zu halten, hält er für richtig.
»Schulen und Geschäfte müssen offen bleiben. Ich denke nicht, dass Schließungen helfen.« Sollte es eine aggressive Variante geben, müsse dies eventuell für bestimmte Betriebe wie Nachtklubs oder Veranstaltungshallen überdacht werden, doch jetzt gelte: »Je mehr geöffnet ist, desto besser.« Das Tragen von Masken in Innenräumen aber hält Cohen »bis auf Weiteres« noch für angeraten.
Und wann können wir sagen, dass wir mit dem Coronavirus leben? »Was uns fehlt, ist die Stabilität. Dafür müsste es eine gewisse Regelmäßigkeit beim Auftreten der Infektionen geben und dass diese weniger Auswirkungen auf das Gesundheitssystem haben.« Denn auch bei der Grippe gebe es immer wieder aggressive Varianten, etwa die Schweinegrippe. Diese seien jedoch relativ selten. »Wenn wir das einschätzen können, ist es möglich zu sagen: Die Gefahr der Pandemie ist vorüber.«
Cohen ist optimistisch, dass die Welt jetzt für eine neue Pandemie besser vorbereitet ist.
Cohen ist optimistisch, dass die Welt jetzt für eine neue Pandemie besser vorbereitet ist. Viele Regierungen hätten verstanden, dass man bessere Gesundheitssysteme brauche. Die Menschen hätten gelernt, mit den Veränderungen umzugehen, und vor allem sei die Fähigkeit, schnell Vakzine herzustellen, gegeben. »Alles in allem war Corona eine sehr effektive Übung.«
»Allerdings«, schränkt er ein, »ist dieses Coronavirus auf Tiere übertragbar und wieder zurück auf Menschen. Dadurch wird es ohne Zweifel neue Varianten geben.« Ein Ende der Pandemie bedeute also nicht, dass das Virus verschwindet. »Wahrscheinlich ist es für immer unter uns – allerdings wird es dann kontrollierbar sein.«