Wirtschaft

Mit Chuzpe durch die Krise

Zum Erstaunen von Experten haben Investoren ihr Engagement in der Hightech-Industrie nicht reduziert. Foto: dpa

Trotz der Corona-Krise bleiben israelische Start-ups auf Wachstumskurs. Die Hightech-Industrie sei auf die Entwicklung neuer Ideen und Anwendungen ausgerichtet, sagt der Tel Aviver Ökonom Dan Ben-David, »und da hat Israel einen komparativen Vorteil«. Was allerdings nicht heißt, dass die Maßnahmen gegen die Corona-Epidemie spurlos an der Branche vorbeigehen.

Lockdown Doch während die alte Ökonomie als Folge des wochenlangen Lockdowns in einer tiefen Depression steckt und jeder fünfte Angestellte seinen Job verloren hat, herrscht in Teilen der Start-up-Szene Aufbruchstimmung.

Insgesamt 20 Prozent der Hightech-Mitarbeiter verloren ihren Job oder mussten unbezahlten Urlaub nehmen.

Viele Start-ups kämpfen zwar ebenfalls mit den Folgen der Corona-Krise. Um zu überleben, mussten sie die Effizienz erhöhen, Löhne kürzen, Büroflächen aufgeben, weil die meisten im Homeoffice arbeiteten, und es kam zu Kündigungen.

So hat sich neulich der Software-Produzent Amdocs von rund 1000 Arbeitnehmern getrennt. Insgesamt 20 Prozent der Hightech-Mitarbeiter verloren ihren Job oder mussten unbezahlten Urlaub nehmen, schätzte im Mai Yisrael Gross vom Cybersecurity-Start-up L7 Defense. Aber gleichzeitig sind Dutzende von Firmen auf der Suche nach Ingenieuren, Programmierern, Cyberspezialisten oder Marketingexperten.

INVESTOREN Zwar ist in der Branche bei den Exits (Börsengänge, Zusammenschlüsse oder Aufkäufe) ein deutlicher Rückgang zu verzeichnen, wie aus Zahlen zur ersten Jahreshälfte hervorgeht. Börsengänge und Firmenzusammenschlüsse sind auf den tiefsten Stand seit sechs Jahren gesunken, zeigt eine Statistik des IVC Research Center. In den ersten sechs Monaten kam es zu 52 Exits mit einem Gesamtvolumen von 5,8 Milliarden Dollar. Im vergangenen Jahr waren im selben Zeitraum 77 Exits im Wert von 14 Milliarden Dollar vermeldet worden.

Die Start-up-Szene ist bestens für den Umbruch gewappnet.

Zum Erstaunen von Experten haben Investoren ihre Engagements aber nicht reduziert. Israels Start-ups mobilisierten im zweiten Quartal sogar 33 Prozent mehr Gelder als im Vorjahresquartal, heißt es im jüngsten Bericht von IVC ZAG, einem Tel Aviver Forschungszentrum für Wagniskapital.

Das komme freilich nicht von ungefähr, meint Inbal Ariel, die in ihrem Buch Chutzpah das Geheimnis der Start-up-Nation ausleuchtet. Arieli streut dort immer wieder hebräische Worte ein, die Israels Lebensweise erklären, und verquickt sie mit der Business-Welt. Die beiden wichtigsten Prinzipien lauten »Chutzpah« – Dreistigkeit, Unverfrorenheit – und »Balagan«, was so viel wie Durcheinander oder Chaos heißt.

BALAGAN Nicht sehr vertrauenserweckende Vokabeln für einen soliden Businessplan, oder? Den Einwand könne sie durchaus verstehen, sagt Arieli im Gespräch. Und doch seien »Chutzpah« und »Balagan« Teile von Israels DNA – und eine wichtige Erklärung, warum das Land trotz widrigster Umstände so viele Innovationen entwickelt. Das werde gerade im Post-Corona-Jahr helfen, ist die Autorin von Chutzpah überzeugt. »Israelis haben gelernt, mit instabilen Verhältnissen umzugehen. Sie haben eine Kultur der Flexibilität und Beharrlichkeit geschaffen.« Gerade jetzt, in Zeiten der Angst und Unsicherheit, sei es an der Zeit, diese Stärken zu betonen – sie spricht von »verdoppeln« – und anzuwenden, was man in Israel von Kindesbeinen an gelernt habe.

»Unsicherheit ist für uns in Israel keine unbekannte Größe«, sagt Arieli. Begriffe wie Chutzpah oder Balagan seien daher im israelischen Alltag weder positiv noch negativ belegt. Wenn, dann sei es eher wie beim Krafttraining: »Je mehr man damit vertraut ist, in einem chaotischen Umfeld aufzuwachsen, umso intensiver trainiert man die entsprechenden Muskeln, die die Anpassungsfähigkeit stärken.«

Auch wenn die Politik im Kampf gegen Corona seit Wochen sehr chaotisch ist und bei der Bevölkerung das Vertrauen verspielt hat, stehe Israels Hightech im Kampf gegen Covid-19 »an der Front«, sagt Jonathan Medved, der Chef von OurCrowd, Israels aktivstem VC-Fonds. Die Krise habe Technologietrends »in Warp-Geschwindigkeit beschleunigt«. Er geht davon aus, dass als Folge der Krise neue Firmen entstehen werden, weil die Bedürfnisse und Anwendungsoptionen auf breiter Front gestiegen sind, zum Beispiel in den Bereichen Cloud und Künstliche Intelligenz, zudem bei digitalen Gesundheitsprojekten.

UMBRUCH Israels Start-up-Szene sei bestens für den technologischen Umbruch gewappnet, meint auch der Ökonom und Innovationsexperte Eugene Kandel, der früher Premier Benjamin Netanjahu beraten hat. Im Remote- und Homeoffice-Trend, der durch die Corona-Krise beschleunigt wird, kommen vermehrt Bereiche wie FinTech, EduTech, HealthTech und Cyber zum Zug. Für die Verkürzung von Lieferketten, die jetzt zum Beispiel in der Pharma- oder der Nahrungsmittelbranche angesagt sind, seien in der Produktion und in der Logistik enorme Digitalisierungsprozesse notwendig. Kandel meint: »Israels Tech-Sektor ist auf diesen Gebieten stark und kann viel Mehrwert schaffen.«

Kopfzerbrechen bereiten der Branche allerdings die Reiserestriktionen. Trotz ihrer Spezialisierung auf modernste Technologie sei sie in ihrem Verhalten sehr traditionell, sagt Kandel. »Ohne persönliche Kontakte kommen weniger Investitionen zustande.« Die Interaktion zwischen Israel und der Welt habe in der exportorientierten Hightech-Branche »ernsthaften Schaden genommen«, so Energieminister Yuval Steinitz.

Als ob es keine Corona-Krise gäbe, werden aber Hightech-Deals abgeschlossen. So erwarb Intel im Frühjahr die Mobilitäts-App Moovit für 900 Millionen Dollar, die in Echtzeit über öffentliche Fahrpläne informiert. Mit dem Kauf ergänzt der US-Chiphersteller sein Mobilitätsportfolio in Israel, zu dem bereits Mobileye gehört. Die Intel-Gruppe strebt die Position eines umfassenden Mobilitätsanbieters an. Moovit hat 800 Millionen registrierte Nutzer.

»Jede Krisensituation bietet große Chancen für Investoren«, ist Yoav Tzruya überzeugt. Der Partner bei Jerusalem Venture Partners JVP, einem der führenden VC-Fonds, preist die Zeit für Wagniskapitalfirmen als »großartig«. Er geht davon aus, dass Investoren in den nächsten Wochen »weitere Perlen« kaufen werden – zu günstigeren Preisen als vor der Corona-Krise. Die Qualität des Handelsflusses steige: »Wir können bessere Firmen zu niedrigeren Preisen kaufen.«

Die Pandemie sieht Kandel auch als Chance, vermehrt Bevölkerungssegmente in die Hightech-Branche zu integrieren, die bisher schlecht vertreten sind. Dazu gehören vor allem Ultraorthodoxe, arabische Israelis und junge Mütter.

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