Jom Haazmaut

Mein Israel

Es ist schon »cool«, in einem Land zu leben, in dem es das Meer vor der Haustür und vor allem alltägliches jüdisches Leben gibt. Foto: picture alliance/AP Photo

»Du lebst jetzt in einem Urlaubsland, wie cool!« So lautete das Fazit meines damals sechsjährigen Neffen, als er mich in den von Palmen gesäumten Straßen Israels bei einem Videoanruf sah.

Recht hat er. Es ist schon »cool«, in einem Land zu leben, in dem es Palmen, das Meer vor der Haustür, Falafel und Hummus an jeder Ecke, große fleischige Avocados und vor allen Dingen alltägliches jüdisches Leben gibt.

mentalität Bei meinem ersten Jom Haazmaut als israelische Staatsbürgerin vor dreieinhalb Jahren war mir bewusst, dass ich eine rosarote beziehungsweise israelblaue Brille trage – und ich genoss es. Ich wurde sowohl von Deutschen als auch von Israelis vor dem Balagan gewarnt, dem schlechten Service, der ruppigen Mentalität. Doch all diese Dinge habe ich damals gern in Kauf genommen, zumindest für eine Weile.

So sehr ich Israel liebe, so sehr Israel mit meiner eigenen Familie mein Zuhause geworden ist, so sehr treiben mich manche Dinge schlichtweg in den Wahnsinn.

Jetzt, am 73. Geburtstag des jüdischen Staates, ist meine Brille weniger rosa, und wo die Sonne scheint, da fällt auch Schatten. So sehr ich Israel liebe, so sehr Israel mit meiner eigenen Familie mein Zuhause geworden ist, so sehr treiben mich manche Dinge schlichtweg in den Wahnsinn. In den vergangenen zwei Jahren war ich viermal an der Wahlurne.

Über das Endergebnis kann man gerne streiten, doch dafür bräuchte es ja erst einmal einen eindeutigen Ausgang und nicht diese ewigen Spielchen, die mehr an spanische Telenovelas erinnern als an eine Landesregierung. Aufgrund dieser politischen Dauerkrise bleiben viele wichtige Themen unangetastet. Unter anderem sollten sich die israelischen Politiker endlich einmal auf die viel zu niedrigen Löhne konzentrieren statt nur auf die neuesten Wahlumfragen.

corona-krise Nach der Corona-Krise, die zahlreiche Menschen für rund ein Jahr in die bezahlte Arbeitslosigkeit geschickt hat, wollen viele nicht in ihre Jobs zurückkehren. Der Grund: Eine sechstägige Vollzeit-Arbeitswoche bringt oft nur bis zu 2000 Schekel (500 Euro) monatlich mehr ein. Da genießen viele lieber die Zeit zu Hause mit der Familie, als sich für einen schlechten Stundenlohn abzurackern.

Zudem erspart man sich damit auch den täglichen Kampf im lauten, aggressiven Verkehr, der, obwohl man dieses kleine Land in wenigen Stunden komplett erkunden kann, einen stundenlang in Gefangenschaft nimmt und ich mich in die Wüste wünsche, den einzigen stillen Ort im Land. Direkt in den Großstädten zu leben, um dann vielleicht zur Arbeit zu laufen, ist bei den wolkenkratzerhohen Mieten fast utopisch.

Dass Israel zu einem der innovativsten Länder der Welt gehört, ist unbestritten, umso mehr erstaunt es, wie unlogisch manche Dinge gelöst werden. Vergeblich sucht man – ja, ja, ich weiß, hier kommt die Jeckete durch – nach den üblichen Steckdosenkappen mit Kindersicherung, man bekommt lediglich Plastikkappen, die dann zwar das Kind schützen, die Steckdose aber gleichzeitig unbrauchbar machen. Während man in Deutschland perfekt zugeschnittenes Backpapier handlich abrollen kann, wird hier ein Packen in der Mitte gefaltet.

Es ist wie in einer Ehe: Irgendwann setzt man die rosarote Brille ab.

Wer glaubt, die deutsche Bürokratie sei anstrengend, der musste noch nie in der Schlange beim Misrad Hapnim stehen, um dann wie beim Russisch Roulette darauf zu hoffen, dass man eine halbwegs vernünftige und arbeitswillige Person vor sich sitzen hat. Bei jedem meiner Besuche werde ich Zeugin mindestens eines dramatischen Streits – und auch ich selbst habe dort schon die Beherrschung verloren.

neueinwanderer Neueinwanderer scherzen gerne, dass man immer eine Packung Taschentücher dabeihaben sollte, um sich die Tränen aus lauter Wut oder Verzweiflung zu trocknen. Und wenn man sich dann bei einem leckeren Lunch in der palmengesäumten Straße und mit einem frischen Eistee in der Hand ein bisschen beruhigen möchte – dann kommt die mit Sicherheit unfreundlichste, langsamste Kellnerin an den Tisch. Der Service in Israel ist schlecht, der Umgangston allgemein im Land eher ruppig, wenn auch oft nicht böse gemeint. Auch nach über drei Jahren trauere ich einem professionell freundlichen Service hinterher.

Und ich habe bisher noch keine passende Erklärung dafür gefunden, warum es für viele Israelis, die im Dienstleistungssektor arbeiten, so schwer ist, ihre persönlichen Launen hinter einem freundlichen Lächeln zu verstecken und mal ein bisschen »Yalla Yalla« zu machen.

Mazal tov, Israel – ich liebe dich, in guten wie in schlechten Zeiten!

Denn während ich zum Beispiel mit meinem einjährigen Sohn konzentriert und zielstrebig unseren kompletten Wocheneinkauf innerhalb von 15 Minuten erledige, braucht es für den Bezahlvorgang mindestens 20 Minuten. Und das, obwohl nur eine Person vor mir in der Warteschlange steht, die aber entweder Probleme beim Bezahlen hat, einen netten Plausch mit der Kassiererin hält oder einem langsamen jungen Mann dabei zuschaut, wie er die Einkaufstüten in Plastikbehälter verstaut, die später nach Hause geliefert werden.

Man könnte meinen, ich hätte mich in all den Jahren an all diese Dinge gewöhnt. Doch es ist schwer, die eigenen Standards abzulegen. Es ist ein bisschen wie in einer Ehe: Irgendwann setzt man die rosarote Brille ab und sieht sein Gegenüber mit all seinen Macken, die man lieben lernt oder zu akzeptieren versucht. Doch das bedeutet natürlich nicht, dass sie einen nicht in regelmäßigen Abständen in den Wahnsinn treiben. Mazal tov, Israel – ich liebe dich, in guten wie in schlechten Zeiten!

Die Autorin ist freie Journalistin und berichtet unter anderem für die »Bild«-Zeitung aus Israel.

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