Zeitzeugin

»Mein Blick zurück ist ohne Zorn«

Einschulung 1922 in Berlin-Grunewald; Lilo Reis mit ihren vier Kindern in Sde Warburg; Skiurlaub 1930; als junge Frau in Berlin; Hochzeit mit Walter Reis; Lilo Reis heute (v.l.) Foto: Getty Images

Noch immer erinnert sich Lilo Reis an ein Ritual mit ihrem Vater. Im Berliner Grunewald, gleich neben der heute weiß gestrichenen Villa in der Niersteiner Straße 5, standen die Pferde auf einem Grundstück, auf dem die Familie auch Ziegen und Hühner hielt. »Morgens, vor der Schule, da bin ich mit meinem Vater ausgeritten, außer an Schabbat. Und an Schabbat hat mein Vater auch nicht geraucht.« An den Feiertagen sei die Familie in die Synagoge gegangen, »aber nicht an jedem Schabbes. Und koscher haben wir auch nicht gegessen«.

Es sei eine glückliche Kindheit gewesen im Grunewald, erinnert sich Lilo, die vor Kurzem 105 Jahre alt geworden ist, eine Kindheit mit ihren zwei Schwestern Ilse und Erika und den Eltern Paul und Elsa Litten. »In Berlin, in der Großstadt, da habe ich mich nie wohlgefühlt.« Jetzt, im hohen Alter, sehe sie sehr viele Bilder aus der Kindheit deutlich vor sich.

MÄDCHENSCHULE Ihr Vater Paul Litten hatte 1919 eine Heu- und Strohgroßhandlung in Berlin-Zehlendorf gegründet, da hieß Lilo noch Lieselotte und war vier Jahre alt. Genauso wie ihre Schwestern ging Lieselotte auf die höhere Mädchenschule. Ihre Mutter habe sie immer ermahnt, sich gut zu benehmen und fleißig zu lernen. Wobei das mit dem fleißigen Lernen ihr nicht so wichtig gewesen sei, sagt Lilo lachend.

Dennoch hätten sich ihr die Worte der Mutter eingeprägt, denn das Zusammenleben in der Schule habe Grenzen gehabt: »Man sollte nicht sagen: ›Das sind die jüdischen Kinder.‹ Befreundet waren wir nur unter den jüdischen Kindern. Ich erinnere mich nicht, dass ich je bei einem christlichen Mädel eingeladen war. So war das damals.« Später besuchte Lilo in Berlin die Berufsschule und wurde dann Lehrmädchen im Büro ihres Vaters. »Ein Glück, denn dort hat man Marken geklebt. Und so bekomme ich heute eine kleine Rente aus Deutschland.«

1935 bestieg Lilo in Schweden den Zug nach Triest, von dort legte das Schiff nach Palästina ab.

Schon früh, erinnert sich Lilo, hätten Rabbiner gewarnt: »Wandert aus, nach Israel, man will euch doch hier nicht haben. Aber meine Eltern, die sind geblieben, die haben gedacht, das wird schon vorbeigehen.« 1934, da war Lilo noch keine 20, verließ sie die Familienvilla im Grunewald, ließ Eltern und Schwestern zurück und ging mit anderen jugendlichen Zionisten nach Schweden auf Hachschara. Hier wurden die jungen Menschen vorbereitet auf ein Leben in Palästina: Sie sollten Landwirtschaft lernen, Hühnerzucht, Kochen und Schneidern.

Schon ein Jahr später bestieg Lilo in Schweden den Zug nach Triest, von dort legte das Schiff nach Palästina ab. Es sei eine aufregende Zeit gewesen, Angst vor der Zukunft gab es für sie nicht. »Es war ein Einklassenschiff. Wir jungen Leute haben viel Hora getanzt, den alten Leuten aber war das schwer. Und wer 50 Jahre alt war, das waren für uns schon alte Leute.« Ihre Eltern hätten sie zwar in Palästina besucht, seien aber wieder nach Berlin zurückgereist in der Hoffnung, dass es wieder bessere Zeiten geben würde. Noch heute ist die 105-Jährige fassungslos: »Sie haben gesagt: Für euch Jungen ist das schön hier, für uns Alten ist das nichts.«

MOSCHAW Lilo erinnert sich gerne an die ersten Jahre in Palästina: Bis 1936 habe sie in einer landwirtschaftlichen Versuchsstation der Briten in Akko gearbeitet, später dann als Familienhelferin und in der Landwirtschaft bei Familien, die wie sie aus Deutschland nach Palästina gekommen waren. »Geld hat keiner gehabt, mir fiel die Arbeit nicht schwer. Und ich wollte immer auf dem Land leben, das hat mich nicht gestört.«

Der Gedanke an die Eltern aber ließ sie nicht los. »1937 bin ich nochmal nach Deutschland gefahren. Und ich hab’ zu meinen Eltern gesagt: Ihr müsst herkommen!« Über die Rasgo, eine Tochterorganisation der Jewish Agency, konnte die Familie ein Tausend-Pfund-Zertifikat erwerben, mehr erlaubten die Nationalsozialisten nicht, damit kaufte Lilo ein Grundstück im Moschaw Sde Warburg: »Ein Meschek – einen Bauernhof – mit einem Haus und einem kleinen Hühnerstall und einer Anleitung für Landwirtschaft.«

Lilo lernte ihren Mann Walter Reis kennen, sie legten ihre zwei Grundstücke zusammen. Beide gehörten 1938 zu den Gründern von Sde Warburg, einem landwirtschaftlichen Dorf nördlich von Kfar Saba, in unmittelbarer Nachbarschaft zum arabischen Dorf Tira. Ausschließlich Jeckes, deutsche Juden, zogen in Sde Warburg kleine Siedlungshäuschen hoch. »Ein Zimmer war für die Kinder, da haben wir Klappbetten gehabt. Tagsüber wurden sie hochgeklappt, damit sie in der Mitte spielen konnten.« Der einzige Luxus, auf den Lilo bestand, war eine Toilette – nicht im Hof, sondern im Haus. »Ohne Klo wäre unser Haus 50 Pfund billiger gewesen.«

GRÜNDERGENERATION Auch ansonsten war alles klein, bescheiden, zweckgemäß: In den ersten fünf Ehejahren brachte Lilo vier Kinder zur Welt. »Aber eigentlich habe ich keine Zeit für die Kinder gehabt«, sagt Lilo rückblickend, »das Wichtigste war, draußen zu arbeiten.« Die Kinder seien immer mitgelaufen. »Und wenn man sie gerade nicht gebrauchen konnte, dann hat man sie eingesperrt im Auslauf von den Hühnern.«

Ausschließlich Jeckes, deutsche Juden, zogen in Sde Warburg kleine Siedlungshäuschen hoch.

So sei das damals gewesen, auch in anderen Familien waren die Prioritäten ähnlich. »Die Schule? Das war nicht wichtig. Sie sollten gute Landwirte werden.« Keiner aus der Gründergeneration von Sde Warburg sei Landwirt gewesen, es waren deutsche Akademiker, Musiker, Selbstständige. »Hebräisch hat keiner gewusst, und man hat sich benommen wie die Deutschen: Pünktlich musste man sein und zuverlässig und möglichst ordentlich.«

1939, gerade noch rechtzeitig vor Beginn des Zweiten Weltkriegs am 1. September, gelang ihren Eltern Elsa und Paul Litten mit den zwei Schwestern die Ausreise nach Palästina. Für die ältere Schwester Erika war das Landleben nichts, die gelernte Laborantin ging nach Jerusalem, die jüngere Schwester Ilse heiratete jung, schon mit 17, auch sie verließ Sde Warburg.

Ihrer Mutter, sagt Lilo, fiel es schwer, sich in Sde Warburg einzuleben. »Sie hat schlecht gesehen und hatte Probleme mit den Beinen, sie war eine echte Berlinerin, und die Landwirtschaft war nichts für sie«, erinnert sich Lilo, »mein Vater aber kam aus Pommern und war gerne draußen.«

»Zu Hause in Berlin hat man am Mittagstisch geklingelt, und das Mädchen hat die Teller abgeräumt. hier musste meine Mutter plötzlich kochen lernen.«

Lilo Reis

Im Dorfmuseum ist zu sehen, mit welch einfachen Werkzeugen damals gearbeitet wurde: Mit Sicheln wurde Getreide geschnitten, das Essen wurde im Henkelmann zur Feldarbeit mitgenommen, die Wäsche wurde mit Seifenlauge auf einem Waschbrett geschrubbt.

Auch die einfache Kost sei ungewohnt gewesen für die Mutter: Meist gab es Gemüse, selbst angebaut. »Zu Hause in Berlin hat man am Mittagstisch geklingelt, und das Mädchen hat die Teller abgeräumt. Und hier musste meine Mutter plötzlich kochen lernen. Für sie war es schwer.« Auch das feuchte Winterklima in Sde Warburg habe allen zugesetzt. »In Schweden war mir nie so kalt gewesen wie hier im ersten Winter, Heizung hatten wir damals natürlich nicht. Und ich war wirklich abgehärtet, nicht verpimpelt.«

UNABHÄNGIGKEITSKRIEG Auch an den israelischen Unabhängigkeitskrieg 1948 erinnert sich Lilo. Nur vier Kilometer von Sde Warburg, im arabischen Tira, habe eine irakische Division gelegen, bei Beschuss hätten sich die Kinder des Moschaws im nahen Wadi versteckt.

Aber sie habe auch sehr viele schöne Tage erlebt als junge Frau in Sde Warburg: Die Familie und auch die Dorfgemeinschaft hätten eng zusammengehalten. Vor allem die älteren Nachbarn hätten höflich den Hut zur Begrüßung gezogen, so wie sie es aus Berlin und anderen Städten in Europa gewohnt waren.

Ab und zu wurde zum Kaffee geladen in ein Café, dessen Tische auf Sand gestellt wurden, wenn etwa die Familie Pintus zur Kammermusik lud.

Ab und zu wurde zum Kaffee geladen in ein Café, dessen Tische auf Sand gestellt wurden, wenn etwa die Familie Pintus zur Kammermusik lud: Die neuen Moschawniki waren Akademiker, wie viele in Sde Warburg, und spielten Geige und Klavier.

Die ersten 20 Jahre in Palästina seien Jahre voller Arbeit gewesen, Jahre des Aufbaus, in denen die Familie gewachsen sei. Dann aber starb 1958 erst Lilos Vater Paul Litten, ein Jahr später ihr Mann Walter. Die Mutter zog in ein Elternheim nach Jerusalem. Und für Lilo, Mutter von vier Kindern, wurden es harte Jahre.

Weil es verboten war, durfte sie keine Arbeiter beschäftigen, also übernahmen die zwei ältesten Söhne die Landwirtschaft. Sie kauften Kühe, verkauften die Kälber und bauten Gemüse an. Um die Familie durchzubringen, ging Lilo in den Norden Israels und leitete dort ein kleines Hotel, nur an manchen Wochenenden kam sie nach Sde Warburg.

WALD Vielleicht sind es die vielen Erinnerungen, die Lilo Reis wachhalten, die sie auf ein reiches Leben zurückblicken lassen: Wie schon seit mehr als 80 Jahren wohnt Lilo in ihrem Zweizimmerhäuschen in Sde Warburg. Auf dem gleichen Grundstück hat ihre Tochter ein Haus gebaut, quasi im Vorgarten, nur ein Stück Rasen voller Zitronenbäume trennt die zwei Gebäude.

Mittlerweile hilft eine Pflegekraft der 105-Jährigen im Alltag. Diese Hilfe wurde vor allem nötig, als sie sich vor wenigen Monaten mit Corona infizierte. Heute aber fühlt sich Lilo wieder gesund, soweit man in diesem Alter gesund sein kann, und noch immer ist es ihr wichtig, weitgehend selbstständig zu leben.

Von Besuch aus Deutschland wünscht sie sich einen Apfelkuchen mit Streuseln.

An der Wohnzimmerwand hängt eine Weltkarte, gespickt mit Fähnchen auf allen Kontinenten, die sie bereist hat in ihrem Leben: Asien, Afrika, Südamerika – auf den meisten Bildern lacht Lilo. In den Regalen stehen viele deutsche Bücher; einen Apfelkuchen mit Streuseln, das wünscht sie sich vom Besuch aus Deutschland.

GROSSFAMILIE Geboren als Lieselotte, aufgewachsen als Tochter von Paul Litten in der Niersteiner Straße 5 im Grunewald, wo heute Stolpersteine an die Familie Litten erinnern, blickt Lilo Reis auf ein reiches Leben zurück – und auf eine Großfamilie: Kinder, Enkel, Urenkel und Ururenkel, weit mehr als 100 Menschen leben verstreut in ganz Israel.

Eine Enkelin ist streng religiös geworden, und auf Familienfotos sieht man Lilo, eine fröhliche zierliche Frau mit grauem Kurzhaarschnitt, umringt von vielen Urenkeln und Ururenkeln, einige tragen Schläfenlocken oder Perücke.

Geblieben ist auch ihr hervorragendes Deutsch mit leichtem Berliner Akzent.

Noch immer sei sie nicht besonders religiös, sagt Lilo, noch immer esse sie nicht regelmäßig koscher, und Schinken möge sie nach wie vor. Geblieben ist auch ihr hervorragendes Deutsch mit leichtem Berliner Akzent. Von einem bequemen Sessel aus verfolgt Lilo im Fernsehen, was vor sich geht in Deutschland. Es ist ihr wichtig, gut informiert zu sein über ihr Geburtsland.

»Jetzt, im Alter, kommt mir furchtbar viel hoch, was früher war.« Aber der Blick zurück sei ohne Zorn. »Ich war eingeladen in Berlin, als ich 70 war. Und da hab’ ich unser Haus gesehen. Es hat mich kaltgelassen.« Das Einzige, was sie immer schön fand, sagt Lilo, das sei der Wald gewesen. Ein Wald wie der Grunewald ihrer Kindheit.

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