Analyse

Brüchiger Deal

Die Wagen mit den drei Geiseln fuhren durch eine aufgebrachte Menge Richtung Israel. Foto: REUTERS

Äußerst skeptisch: Mit diesen zwei Worten könnte man die Stimmung in Israel angesichts des derzeitigen Waffenstillstandsabkommens zusammenfassen. Seit Sonntag ruhen die Waffen, drei israelische Geiseln kamen am selben Tag aus der Gewalt der Hamas frei, und im Gegenzug wurden 90 palästinensische Häftlinge aus Gefängnissen in Israel entlassen. Doch es ist nur der Anfang der ersten Phase des dreiteiligen Plans.

»Die Hürden sind sehr hoch«, sagt der ehemalige Leiter der MIA-Abteilung (Missing in Action) der Geheimdienstdirektion der israelischen Armee (IDF), Avi Kalo. Kalo hat am Abkommen zur Befreiung des israelischen Soldaten Gilad Schalit aus Gaza im Jahr 2011 mitgearbeitet und leitet heute die Beratungs- und Forschungspraxis für Luft-, Raumfahrt und Verteidigung in Nahost des amerikanischen Beratungsunternehmens Frost & Sullivan.

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In der ersten, 42-tägigen Phase sollen insgesamt 33 Geiseln freigelassen werden, im Gegenzug für einen Teilabzug Israels aus dem Gazastreifen und die Freilassung Hunderter palästinensischer Sicherheitsgefangener, darunter Dutzende Terroristen, die wegen Mordes an Israelis lange Haftstrafen verbüßen. Der dreistufige Plan soll die Freilassung aller 98 Geiseln, lebend und tot, sowie das Ende des Krieges und den Wiederaufbau Gazas mit Sicherheitsmechanismen für Israel erwirken. Doch gerade der lange Zeitraum sei die größte Schwierigkeit dabei, die einzelnen Punkte Realität werden zu lassen.

»Die Stimmung zwischen Israel und der Hamas kann sich von einem Moment auf den nächsten verschlechtern und zu einer Implosion des Abkommens führen«, sagt Kalo. »Das haben wir bereits im November 2023 gesehen, als die letzte Phase des damaligen Waffenstillstands nicht umgesetzt wurde, weil die Hamas begann, auf Israel zu feuern.« Dieses Mal, so warnt er, gebe es noch deutlich mehr Fallstricke. Dennoch bezeichnet er das Abkommen mit dem strategischen Ziel eines vollständigen Endes des Krieges als »historisch«.

Bei jedem weiteren Gefangenen kann es zu neuen Einwänden kommen.

Ein weiteres potenzielles Problem stelle die Freilassung der palästinensischen Gefangenen dar, darunter »Massenmörder mit viel Blut an den Händen«. Per Gesetz hat die Öffentlichkeit nach jeder Bekanntgabe 48 bis 72 Stunden lang Zeit, vor dem Obersten Gerichtshof gegen eine Freilassung Einspruch einzulegen. Auch »das könnte Schwierigkeiten mit sich bringen«. Zwar wurden die ersten Klagen bereits abgewiesen, doch bei jedem weiteren Gefangenen kann es zu neuen Einwänden kommen.

Zudem seien das juristische Prozedere, die großen logistischen Anstrengungen und Sicherheitsvorkehrungen bei der Entlassung Hunderter Gefangener, »extrem komplex«. Dabei sei es auch nicht klar, ob es eine Übereinkunft mit Israel über die palästinensischen Gefangenen gibt, die die Hamas fordert. Israel behält sich vor, Namen von den Listen zu streichen. »Und es ist unklar, ob die Hamas ein Veto akzeptiert.«

Auch die Tatsache, dass sich die israelische Armee während der Umsetzung der einzelnen Phasen noch in Gaza befinde, sei schwierig. »Es ist immer möglich, dass trotz der Feuerpause IDF-Soldaten und Hamas-Terroristen aufeinandertreffen, und dies zu erneuten Kämpfen führt«, so Kalo.

»Schreckliche Tragödien in Echtzeit vor unseren Augen«

Als noch sensiblere Angelegenheit betrachtet Kalo die Geiselfreilassungen. »Ganz Israel ist dabei sehr schwierigen Emotionen ausgesetzt. Denn wahrscheinlich sind mehr Geiseln tot, als ursprünglich angenommen wurde.« Er fürchtet, dass sich »schreckliche Tragödien in Echtzeit vor unseren Augen abspielen werden«.

»Vor allem dürfen wir niemals vergessen, dass die Hamas eine manipulative Terrororganisation ist. Sie wird verzögern und verschleiern, wo es nur geht.« Es würde ihn nicht wundern, wenn sich die Gruppe weiterhin weigert anzugeben, ob Geiseln noch am Leben oder bereits tot sind. Und noch schlimmer: Die Hamas könne sogar Israelis in ihrer Gewalt als Faustpfand behalten und gar nicht freigeben wollen.

»Auch Geiseln, die angeblich oder tatsächlich nicht gefunden werden können, könnten das Ende des Deals bedeuten. Ohne die Herausgabe aller Verschleppten wird sich Israel nicht komplett aus Gaza zurückzuziehen, was wiederum die Hamas nicht akzeptiert«, führt Kalo aus. Und leider gebe es keinerlei Möglichkeit oder Mechanismus, sie zu finden. »Einige von ihnen werden nicht von der Hamas, sondern vom Islamischen Dschihad oder anderen militanten Organisationen festgehalten.«

Das Abkommen mit dem strategischen Ziel eines vollständigen Endes des Krieges ist historisch.

»Alle gehen davon aus, dass die Hamas Israel betrügen will«, lautet sein vernichtendes Urteil. Allerdings, so schränkt er ein, dürfe man nicht vergessen, dass die Lage im Gazastreifen katastrophal ist und einige Wohngebiete völlig zerstört sind.

In Anbetracht all dessen müssten die Koordinatoren des Abkommens klare Mechanismen einsetzen, was bei dem Auftreten einer jeden Schwierigkeit zu tun ist, um den Deal nicht scheitern zu lassen. »Allerdings sehen wir keine solchen Mechanismen. Und das ist ein sehr großes Problem.« Zusammenfassend sagt Kalo, dass dieses »Abkommen unter keinem guten Stern, sondern stattdessen unter einer riesigen dunklen Wolke des massiven gegenseitigen Misstrauens steht«.

»Einer der blutigsten Konflikte in der ganzen Welt«

Ein wenig Hoffnung hat er, dass der neue US-amerikanische Präsident Donald Trump die verfeindeten Seiten dennoch drängen könnte, die Vereinbarung bis zur letzten Phase umzusetzen. »Ich bin mir sicher, dass es ein echtes Interesse der neuen Regierung im Weißen Haus ist, den kompletten Rückzug der IDF aus dem Gazastreifen und ein Ende des Krieges zu sehen. Dies könnte ein wirklicher Erfolg für den Beginn seiner Amtszeit sein, schließlich ist es einer der blutigsten Konflikte in der ganzen Welt.«

Allerdings wurde Trump am Montag mit den Worten zitiert, dass er »nicht zuversichtlich« sei, dass die am Vortag in Kraft getretene Feuerpause in allen drei Phasen eingehalten wird. »Es ist nicht unser Krieg. Es ist ihr Krieg. Ich bin nicht zuversichtlich«, so seine Antwort auf die Frage von Reportern, als er kurz nach der Amtseinführung im Oval Office Dekrete unterzeichnete. »Aber ich glaube, dass die andere Seite sehr geschwächt ist«, fügte Trump noch hinzu, womit er offenbar die Hamas meinte.

»Solange die Terrororganisation noch im Gazastreifen existiert, wird es kein gutes Ende nehmen«, meint Avi Kalo. Zeit, sagt er, sei wahrscheinlich das effektivste Mittel für Palästinenser und Israelis, irgendwann einmal friedlich nebeneinander zu leben. Momentan gehe es aber erst einmal darum, die Lage zu stabilisieren. »Es braucht den Wiederaufbau und eine strategische Vision für Gaza plus eine drastische Entscheidung, die Hamas ein für alle Mal hinauszuwerfen. Dann gibt es vielleicht im nächsten Jahrzehnt echten Frieden.«

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