Coronavirus

»Lockdown war nicht nötig«

Trostlos: (fast) leerer Strand in Tel Aviv Foto: Flash 90

Seit sechs Wochen bereits erlebt Israel eine der weltweit striktesten Abriegelungen wegen des Corona-Ausbruchs. Schulen und Läden waren geschlossen oder sind es noch, die Menschen dürfen sich lediglich 100 Meter von ihren Häusern entfernen und nur, um Notwendiges zu erledigen.

Jetzt argumentieren etablierte Wissenschaftler der Hebräischen Universität in Jerusalem (HU), dass dieser Lockdown so nicht nötig gewesen sei und die Pandemie auf andere Weise hätte kontrolliert werden können.

massnahmen Israel war eines der ersten Länder, die extrem harsche Maßnahmen umsetzten, von der Quarantäne für ankommende Reisende über die Abriegelung kompletter Städte mit hoher Infektionsrate bis zu Ausgangssperren für die gesamte Bevölkerung. Nachdem die Beschäftigungsrate von der Regierung zunächst auf 30 und dann auf 15 Prozent verringert wurde, schnellte die Arbeitslosigkeit mit 1,1 Millionen Jobsuchenden auf eine Quote von historischen 27 Prozent.

Für alle Israelis ab sechs Jahren herrscht die Tragepflicht von Schutzmasken.

Bei Redaktionsschluss lag die Zahl der Infizierten bei rund 16.000, etwas mehr als 200 Menschen starben an den Folgen einer Erkrankung mit Covid-19, der Großteil über 80 Jahre alt.

Seit einigen Tagen gibt es Lockerungen: Geschäfte, die sich nicht in Einkaufszentren befinden, dürfen Kunden empfangen, ebenso ist die Abholung von Speisen aus Restaurants und Cafés wieder erlaubt. Noch ist nicht klar, ob die in Israel so beliebten Märkte wieder öffnen dürfen.

ÖFFNUNG Ab Donnerstag sollen die meisten Sportarten im Freien erlaubt sein, darunter Wassersport an der Küste. Zudem beschloss die Regierung, den Betrieb in Kindergärten und Grundschulen wiederaufzunehmen, allerdings lediglich in Gruppen von maximal 15 Kindern und ausschließlich bis zur dritten Klasse. Für alle Israelis ab sechs Jahren herrscht die Tragepflicht von Schutzmasken.

Derweil kündigte Gesundheitsminister Yaakov Litzman an, sein Amt in der kommenden Regierung nicht mehr auszuüben. Stattdessen will er das Wohnungsbauministerium übernehmen. Litzman war für seinen Umgang mit der Corona-Krise stark in die Kritik geraten.

Der Vorsitzende der ultraorthodoxen Partei Vereinigtes Tora-Judentum betonte: »Ich sage aus vollem Herzen, dass unser Gesundheitssystem stark und stabil ist.« Experten bezweifeln das. Ein Bericht des staatlichen Kontrolleurs führte aus, dass der Haushalt im Gesundheitswesen zu gering und die Zahl des medizinischen Personals nicht ausreichend sei.

Die extremen Abriegelungsmaßnahmen seien nicht nötig gewesen, um das Virus einzudämmen.

Dennoch ist die Expertengruppe der Hebräischen Universität aus den Wirtschaftswissenschaftlern David Gershon und Alexander Lipton sowie dem führenden Epidemiologen Hagai Levine überzeugt, dass die extremen Abriegelungsmaßnahmen der Regierung nicht nötig gewesen seien, um den Ausbruch des Virus einzudämmen.

In ihrer Studie, die auf www.arxiv.com veröffentlicht wurde, zeigen sie, dass Israel und andere Länder Covid-19 stattdessen mit anderen Maßnahmen unter Kontrolle hätten bringen können. Gershon erklärt, worauf die Ergebnisse der Studie basieren: »Die meisten Gesundheitssysteme arbeiten mit vereinfachten Modellen, die wenige Zahlen betrachten und dabei viele Faktoren übersehen. Wir indes haben ein komplexes Modell entwickelt.«

GRUPPEN »Das unterteilt zunächst die Bevölkerung in verschiedene Gruppen, beispielsweise entsprechend der Wohndichte, besonderer Risiken in Seniorenwohnheimen oder Kinder, und untersucht, wie diese Gruppen miteinander agieren, denn jede Gruppe hat ihre eigenen Charakteristika. Anschließend werden sämtliche Phasen der Erkrankung analysiert, von der Inkubationszeit über das Auftreten von Symptomen, einem eventuellen Krankenhausaufenthalt bis zum möglichen Tod.«

Die Kalibrierung oder Einstellung erfolgte mit den Daten vieler Länder, darunter Deutschland, Österreich, Island, Frankreich, dem Staat New York und anderen. Aus Israel selbst hätten die Wissenschaftler allerdings keine exakten Daten erhalten. »Nach dem Einspeisen der Daten haben wir gesehen, dass die Sterberate mit 0,4 bis 0,5 Prozent für Covid-19 relativ gering ist.«

Das Gesundheitssystem wäre in keinem Fall zusammengebrochen.

Anschließend stellten Gershon und seine Kollegen Kriterien für einen Lockdown auf. »In unserem Modell gibt es auch teilweise Abriegelungen, etwa für eine bestimmte Bevölkerungsgruppe«, erklärt er, »doch worauf alles hinausläuft, ist die Vermeidung eines Zusammenbruchs des Gesundheitswesens.« Und der, meint er, wäre in Israel niemals geschehen. »Nicht ohne Lockdown und auch nicht im schlimmsten anzunehmenden Fall.«

RISIKO Denn die israelische Bevölkerung sei eine relativ junge mit einer verhältnismäßig kleinen Zahl an Risikopatienten (weniger als zwölf Prozent). Zum Beginn des Ausbruchs habe die Reproduktionsrate des Virus bei drei gelegen, bereits 14 Tage später – und noch vor dem Lockdown – bereits bei 1,3.

Diese Zahl sei niedrig genug, um kein ernsthaftes Problem zu bekommen, so Gershon. »Wir resümieren: Wenn sich die Menschen an die Regeln des sozialen Abstands und der Hygiene halten und Masken tragen, wird das Gesundheitssystem nicht überrannt, sondern normal funktionieren.« Die Leute würden sich generell recht vorsichtig verhalten, die Risikogruppen noch viel mehr.

Der Lockdown indes war aus Sicht von Gershon, Lipton und Levine »eine katas­trophale Entscheidung, die wirtschaftlich für eine gesamte Generation Folgen haben wird«. Warum die Regierung nicht auf derartige Modelle oder den Input von Experten zurückgegriffen habe, bevor sie das Land abriegelte, ist indes unklar.

»Dem Gesundheitsministerium fehlten offenbar die korrekten Werkzeuge«, meint Gershon und fügt hinzu, dass die Regierung von Anfang an zu schnell bereit gewesen sei, harsche Maßnahmen einzuführen. Sein Ratschlag: »Öffnet jetzt alles und helft, dass sozialer Abstand möglich ist, wo immer es geht.«

experten Er betont, dass die Aussage, der Lockdown in Israel sei völlig überflüssig gewesen, nicht leichtfertig getätigt werde. »Wir alle sind ernsthafte Wissenschaftler, Experten für Modelle und keine Laien, die sich schnell etwas ausgedacht haben. Dass wir uns mit unserem Namen und unserer Reputation hinter diese Worte stellen, bedeutet, dass sie Hand und Fuß haben.« Die Regierung in Israel ist nach wie vor nicht auf die Wissenschaftler zugekommen, um das Modell anzuwenden. Sie bezweifeln, dass sie es je tun wird.

Das Modell kann mit den Daten zur Bevölkerung gefüttert, mit den Zahlen der Betten auf den Intensivstationen verglichen und so auf alle Länder der Erde angewandt werden. Je mehr Daten eingespeist werden, desto genauer ist es. Dass es akkurat ist, hat es bereits gezeigt. »Wir haben damit vorausgesagt, was in Großbritannien und in New York geschehen würde. Und alles ist genau so eingetroffen, wie es unser Modell angegeben hat.«

Vermisst

Er verteidigte seinen Kibbuz

Tal Chaimi kam als Einziger des Noteinsatzteams nicht zurück

von Sophie Albers Ben Chamo  18.04.2025

Meinung

Der verklärte Blick der Deutschen auf Israel

Hierzulande blenden viele Israels Vielfalt und seine Probleme gezielt aus. Das zeigt nicht zuletzt die Kontroverse um die Rede Omri Boehms in Buchenwald

von Zeev Avrahami  18.04.2025

Meinung

Geduld mit Trump

US-Präsident Trump ist vielleicht nicht der perfekte Freund Israels und der Juden, aber der beste, den sie haben. Vorschnelle Kritik an seinem Handeln wäre unklug

von Michael Wolffsohn  17.04.2025

Nachrichten

Geisel, Protest, Terroristen

Kurzmeldungen aus Israel

von Sophie Albers Ben Chamo  17.04.2025

Washington D.C.

»New York Times«: Trump lehnte Angriff auf Irans Atomanlagen ab

Israel soll einen Bombenangriff auf iranische Nuklearanlagen geplant haben - mit Unterstützung der USA. Doch mehrere Mitglieder der Trump-Regierung hätten Zweifel gehabt

 17.04.2025

Jerusalem

Netanjahu erörtert Geisel-Frage mit seinen Unterhändlern

Israels Regierungschef weist das Verhandlungsteam an, auf die Freilassung der Hamas-Geiseln hinzuarbeiten

 17.04.2025

Gaza

Hund von Opfern des 7. Oktober in Gaza gefunden

Einem israelischen Soldaten ist in Gaza ein Hund zugelaufen, der auf Hebräisch reagierte. Er nahm ihn mit zurück nach Israel und fand seine Besitzer

von Sophie Albers Ben Chamo  16.04.2025

Krieg

Terroristen in Gaza schockieren mit neuem Geisel-Video

Der Palästinensische Islamische Dschihad hat nach 18 Monaten erstmals ein Lebenszeichen von Rom Braslavski veröffentlicht

 16.04.2025

Nahost

Israel will Gebiete in Gaza, Libanon und Syrien dauerhaft unter Kontrolle behalten

Im Gazastreifen habe die Armee bereits 70 Prozent des Gebiets unter Kontrolle

 16.04.2025