Erst seit einem Monat ist Israels neue Regierung im Amt, doch in mindestens einem Feld verschiebt sie schon Grundsätzliches – im Verhältnis zwischen Staat und ultraorthodoxer Minderheit. Zum ersten Mal seit vielen Jahren sitzen die beiden ultraorthodoxen Parteien Schas und Vereinigtes Tora-Judentum (VJT) auf der Oppositionsbank. Und wie unbequem es dort sein kann, erfuhren deren Abgeordnete vergangene Woche: Da kündigte Finanzminister Avigdor Lieberman eine Ausgabenkürzung an, die sich in erster Linie gegen streng religiöse Juden richtet.
Bisher erhielten gering verdienende Eltern von Kindern unter drei Jahren staatliche Hilfen, um die Kita bezahlen zu können, die in Israel deutlich teurer ist als in Deutschland. Ab dem Beginn des neuen Schuljahres im September sollen nur noch solche Familien in den Genuss der Hilfen kommen, in denen beide Elternteile mindestens in Teilzeit arbeiten oder aber in einer säkularen Bildungseinrichtung studieren. Das religiöse Studium in einem Kollel, einer Talmudschule für verheiratete ultraorthodoxe Männer, gilt also nicht. So will Lieberman die Integration der Charedim in den Arbeitsmarkt vorantreiben, was zu den erklärten Zielen der neuen Regierung unter Ministerpräsident Naftali Bennett gehört.
ARBEITSMARKT »Neue Prioritäten«, schrieb Lieberman dazu auf Twitter. »Ab dem nächsten Schuljahr erhalten nur noch Eltern, die sich in den Arbeitsmarkt integrieren, einen Kita-Zuschuss. Ich werde weitere Maßnahmen initiieren, die negative Anreize für die Integration in den Arbeitsmarkt beseitigen, und mich um die arbeitenden und steuerpflichtigen Bürger kümmern.«
Kita-Zuschüsse sollen nur noch gezahlt werden, wenn beide Elternteile arbeiten.
Lieberman, der der säkular-nationalistischen Partei Israel Beiteinu vorsitzt, kritisiert seit Langem den Lebensstil der Charedim und die Privilegien, die der Staat ihnen einräumt: So sind ultraorthodoxe Männer vom Wehrdienst befreit, sofern sie in Vollzeit einem Religionsstudium nachgehen, für das sie außerdem ein Stipendium erhalten. Nur jeder zweite ultraorthodoxe Mann arbeitet, und auch das oft in schlecht bezahlten Stellen: Die Schulen für charedische Jungen sind ganz auf das lebenslange Religionsstudium ausgerichtet, säkulare Inhalte kommen kaum vor. In der Regel ist es die Frau, die neben Kindererziehung und Haushalt für die finanzielle Versorgung der Familie zuständig ist.
Derzeit machen Charedim zwölf Prozent der Bevölkerung aus, doch ihr Anteil wächst stetig; die Geburtenrate ist bei ihnen mit sieben Kindern pro Familie mehr als doppelt so hoch wie im gesamtisraelischen Durchschnitt. Deshalb halten viele Ökonomen den Status quo für langfristig untragbar, fordern eine Reform des ultraorthodoxen Schulsystems und die Integration der Religiösen in den Arbeitsmarkt. Letzterem Ziel soll Liebermans Maßnahme dienen.
ANGRIFF Die ultraorthodoxen Parteien zeigen sich entsetzt. »Das ist ein direkter und bewusster Angriff auf charedische Familien aus Ekel und Hass gegenüber ihren Studenten und Familien mit Kindern«, beschwerte sich der VTJ-Abgeordnete Yaakov Litzman. Die Regierung führe »einen Kampf gegen alles, was heilig und uns lieb und teuer ist«. Die sefardisch-religiöse Partei Schas verbreitete in sozialen Medien das Bild eines kleinen Kindes, überschrieben mit schwarz-roten Buchstaben: »Die Regierung Bennett-Lieberman lässt die Kinder Israels hungern!«
Manche Kritiker der Maßnahme behaupten, anstatt mehr Charedim in den Arbeitsmarkt zu treiben, werde sie ultraorthodoxe Mütter zwingen, ihre Kinder zu Hause zu betreuen. Der Politikwissenschaftler Gilad Malach jedoch, der am Israel Democracy Institute, einem liberalen Thinktank, zu Charedim forscht, hält dieses Szenario für unrealistisch. »Ohne jedes Einkommen kommen die Familien nicht aus«, sagt er. Die neuen Bedingungen zum Bezug von Finanzhilfen hält er für sinnvoll, einzig ihre schnelle Einführung sieht er kritisch: Um einen Job zu finden und sich womöglich erst dafür zu qualifizieren, bräuchten ultraorthodoxe Männer mehr Zeit.
Der streng religiösen Minderheit dürften weitere Änderungen bevorstehen. In der Koalitionsvereinbarung haben die acht Parteien, die die neue Regierung stellen, unter anderem mehr Raum und Einfluss für nichtorthodoxe Strömungen des Judentums versprochen. Reform- und Masorti-Gemeinden erhalten, anders als orthodoxe, in Israel kaum Unterstützung vom Staat. Das Monopol über Bereiche wie Heirat, Scheidung, Übertritt und Begräbnis liegt in der Hand des orthodoxen Rabbinats. Drastische Änderungen in dieser Hinsicht sind von der neuen Regierung zwar nicht zu erwarten, doch allein ihre demonstrative Offenheit gegenüber nichtorthodoxen Strömungen erzürnt die politischen Vertreter der Charedim.
ALMOSEN Verkörpert wird der Stimmungswandel durch den Reformrabbiner Gilad Kariv, der als Abgeordneter der Arbeitspartei im Parlament sitzt – als erster Reformrabbiner überhaupt. Auch darauf reagieren die charedischen Parteien mit Zorn, drohten etwa, den Ausschuss für Verfassung, Recht und Gesetz zu boykottieren, dem Kariv vorsitzt. Der VTJ-Abgeordnete Meir Porush verglich Reformjuden kürzlich gar mit Schweinen.
Zum ersten Mal sitzt ein Reformrabbiner in der Knesset.
Die Geschmähten geben sich bislang gelassen. »Machen Sie ein paar Jahre Pause und lassen uns die Schäden reparieren, die Sie angerichtet haben«, schrieb Kariv auf Twitter, an die charedischen Parteien gerichtet.
Und Finanzminister Lieberman lud auf demselben Medium seine »Freunde aus dem ultraorthodoxen Sektor« dazu ein, die Worte des großen jüdischen Gelehrten Maimonides aus dem 12. Jahrhundert zu studieren, der, wie Lieberman hinzufügte, »Vollzeit arbeitete«. Dazu veröffentlichte er ein Zitat aus Maimonides’ berühmtem Gesetzeswerk Mischne Tora: »Wer sich nur mit der Tora befasst und kein Handwerk betreibt und von Almosen lebt, entweiht (Gottes) Namen, entehrt die Tora, löscht das Licht des Glaubens aus, bringt Böses über sich und verwirkt das Leben der kommenden Welt.«