Überraschungen gab es wenige – und zugleich könnte der Ausgang der zweiten Parlamentswahl in diesem Jahr zu großen Veränderungen in Israel führen. Ministerpräsident Benjamin Netanjahu vom Likud und sein Herausforderer, Benny Gantz von der Zentrumsunion Blau-Weiß, lagen nach der Auszählung der meisten Stimmen am Mittwochmorgen mit je 32 Mandaten gleichauf.
Keiner der beiden wird es damit voraussichtlich schaffen, mit kleinen Gruppierungen die erforderliche Mehrheit von 61 Sitzen in der Knesset zu sichern. Damit könnte sich Israel auf dem Weg zu einer Einheitsregierung befinden.
königsmacher Einer der Ersten, der das forderte, ist der von allen Seiten als Königsmacher bezeichnete Avigdor Lieberman von Israel Beiteinu – der damit die religiösen Parteien ablöste, die lange Jahre als Zünglein an der Waage galten.
Lieberman trat noch am gleichen Abend bei der Wahlparty seiner Partei auf die Bühne und machte klar, dass es nur diese eine Möglichkeit gebe. »Ich sage allen Bürgern, dass sich unsere Sicherheits- und Wirtschaftslage im Ausnahmezustand befindet. Unser Staat braucht eine nationale, liberale und breite Regierung und keine, die jede Woche um ihr Überleben kämpft.« Ebenso deutlich unterstrich er, dass er mit keiner einzelnen Partei über eine Regierungskoalition verhandeln werde.
Die Umfragen der verschiedenen Fernsehsender hatten einen Gleichstand der beiden großen Parteien bereits seit Wochen vorausgesagt.
Damit steht er zu seiner Aussage, die er bereits seit Wochen wiederholt. Im Wahlkampf hatte Lieberman beteuert, dass er Israel zu einer breiten Regierungskoalition ohne die Beteiligung der religiösen Parteien verhelfen wolle. Präsident Reuven Rivlin solle Netanjahu und Gantz sofort einladen, um informell miteinander zu reden und keine Zeit verlieren.
Umfragen Die Umfragen der verschiedenen Fernsehsender hatten einen Gleichstand der beiden großen Parteien bereits seit Wochen vorausgesagt und lagen auch bei den kleineren Parteien richtig: Als drittstärkste Union zieht die Vereinigte Arabische Liste mit zwölf Mandaten in die Knesset ein. Die Kampagnen der in der Union zusammengeschlossenen Parteien hatten es geschafft, dieses Mal mehr Menschen als im April an die Urnen zu locken.
Die Wahlbeteiligung stieg bei den arabischen Israelis von 49 auf geschätzte 65 Prozent. Sie machen einen Anteil von 20 Prozent der Bevölkerung und 16 Prozent der Wählerschaft aus. Insgesamt lag die Wahlbeteiligung nach Angaben des zentralen Wahlkomitees bei einem Landesdurchschnitt von 69,4 Prozent. Das bedeutet eine Steigerung im Vergleich zum April von 1,5 Prozentpunkten.
Mandate Liebermans Israel Beiteinu erreichte neun Mandate, das Rechtsbündnis Yamina aus Ayelet Shakeds und Naftali Bennetts Hajamin Hachadasch und dem Jüdischen Haus sieben, die Union aus Arbeitspartei und Gescher sechs sowie das Demokratische Lager von Ehud Barak und der Linkspartei Meretz fünf Mandate.
Das ultraorthodoxe Vereinigte Tora-Judentum blieb stabil mit acht Sitzen, die sefardische Schas holte neun. Alle anderen Parteien, darunter die rechtsextreme Otzma Jehudit, haben die Eintrittshürde von 3,25 Prozent nicht erreicht.
Ein Rechtsblock aus Likud, Religiösen und Yamina würde 56 Mandate auf sich vereinen, ein Mitte-Zentrumsblock mit Demokratischem Lager, Arbeitspartei-Gescher und den arabischen Parteien 55. Die große Stabilität in Zahlen aber käme mit einer Einheitsregierung.
Die Koalition aus Likud, Blau-Weiß und Israel Beiteinu würde sich 73 Sitze in der 22. Knesset sichern. Sogar ohne Avigdor Lieberman wäre sie mit immerhin 64 Mandaten regierungsfähig.
Die Wahlbeteiligung lag bei durchschnittlich
69,4 Prozent.
Am Wahlabend sagte Benny Gantz, der Vorsitzende der Union Blau-Weiß, vor seinen Anhängern, dass er bereits mit dem Demokratischen Lager, dem Arbeitspartei-Gescher-Bündnis sowie Israel Beiteinu kommuniziert habe und auch mit der Vereinigten Arabischen Liste reden wolle. »Ich werde mit allen sprechen«, unterstrich er und betonte erneut sein Vorhaben, eine Einheitsregierung zu bilden. »Ich verspreche, heute damit zu beginnen, die israelische Gesellschaft zu heilen.«
Denn Netanjahu habe versagt. Die Nummer zwei der Union, Yair Lapid, fügte hinzu: »Das israelische Volk hat an diesem Tag gezeigt, dass es besser ist als die Politik und seine Politiker. Die Extremisten sind raus, Angst und Hass sind raus, Aufwiegelung und Trennung sind raus. Heute sind israelische Werte auf die Hauptbühne der Politik zurückgekehrt.«
Anklage Netanjahu äußerte sich relativ wortkarg und wenig konkret: »Israel braucht eine starke Regierung, die stabil und zionistisch ist«, ohne weitere Details zu nennen, während die Masse der Likud-Anhänger rief: »Wir wollen keine Einheitsregierung.«
Gleichsam könnte genau diese dazu führen, dass Netanjahu eine fünfte Amtszeit versagt wird. Denn sowohl Gantz als auch sein Partner Lapid hatten während der Kampagne immer wieder beteuert, nicht mit Netanjahu in einer Regierung sitzen zu wollen.
Vor allem, weil über dessen Haupt nach wie vor das Damoklesschwert von Anklagen in drei Korruptionsfällen hängt. Die Anhörung durch Generalstaatsanwalt Avichai Mandelblit ist für Anfang Oktober angesetzt. Dieser hatte bereits angekündigt, dass es keine weiteren terminlichen Verschiebungen geben werde. Keine Frage, dass diese Tatsache Netanjahus Machtposition bei den Koalitionsverhandlungen schwächen wird.
Rücktritt Die Stimmen, dass es vor allem unter diesen Bedingungen an der Zeit sei, ihn als Vorsitzenden des Likud abzulösen, werden immer lauter. Ehud Barak sagte, momentan gebe es einen »sehr fruchtbaren Boden dafür«. Auch Vertreter von Blau-Weiß fordern Netanjahus Rücktritt.
Wie beispielsweise Yoaz Hendel. »Schon in unserer Wahlkampagne haben wir gesagt, dass wir auf eine Einheitsregierung hinarbeiten«, sagte der Politiker. Allerdings, betonte er, müsse dies ohne Netanjahu geschehen. »Es ist eine außergewöhnliche Chance für unser Land.« Justizminister Amir Ohana und andere Likud-Kollegen machten indes klar, dass es keinen Likud ohne Netanjahu geben wird.
Israel wäre nicht Israel, wenn es nicht auch anders kommen könnte.
Vielleicht schmieden einige Politiker bereits neue Pläne. Lieberman sagte beim Verlassen seines Hauses am Mittwochmorgen, er sei sehr enttäuscht von Gantz’ Rede am Abend gewesen. Gantz habe kein Tacheles geredet.
Rotation Kritik an Netanjahu hatte Lieberman an diesem Morgen nicht. Vielleicht ist es ja tatsächlich so, wie einige bereits vermuten: Dass der amtierende Premier den Königmacher nicht nur ins Boot einer Koalition holt, sondern auch gleich mit auf den Chefsessel und ihm eine Rotation als Ministerpräsident anbietet. Ob Lieberman, der einstige Zuwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion, dies ablehnen könnte, ist fraglich.
Allerdings weiß das auch der Präsident. Reuven Rivlin ist derjenige, der bestimmt, wer die Koalitionsverhandlungen anführt. Im April hatte er Netanjahu dazu aufgerufen. Dass er sich dieses Mal auch für ihn entscheiden wird, glauben heute die wenigsten.