Bereits einen Tag nach der Beisetzung des israelischen Sängers und Schauspielers Arik Einstein ist sein Grab auf dem Trumpeldor-Friedhof in Tel Avivs Stadtmitte zum Pilgerort geworden. Dort treffen sich Freundinnen, ältere Ehepaare, junge Männer, elegant gekleidete Frauen, Arbeiter, Familien, Liebespaare und Teenager – alle vereint in ihrer Trauer um den 74-Jährigen, der am Dienstag vergangener Woche unerwartet gestorben ist.
Manche haben Tränen in den Augen, andere sind in Gedanken versunken, die einen erzählen sich Geschichten, teilen Erlebnisse von Konzertbesuchen, erinnern sich an seine Filme wie Metzitzim (Peeping Toms), und andere lachen über die Sketche, die er unter anderem zusammen mit seinem langjährigen Freund Uri Zohar in der Comedytruppe Lool gespielt hat. Und immer wieder stimmt irgendjemand eines seiner Lieder an.
phänomen Der Tod Einsteins scheint das Land – besonders die Menschen in Tel Aviv – zu überwältigen. Sein Begräbnis glich einem, das man einem verdienten Staatsmann zukommen lässt. Viele fühlten sich an Yitzhak Rabin erinnert: Ministerpräsident Benjamin Netanjahu hielt eine Rede, der Sarg wurde auf dem Rabin-Platz aufgebahrt, ein Foto von Einstein prangte riesengroß auf einer Leinwand, und Tausende versammelten sich, um ihm die letzte Ehre zu erweisen. Die Spieler des Fußballvereins Hapoel Tel Aviv erinnerten beim Match gegen Hapoel Beer Sheva an ihren berühmtesten Fan, indem sie Trikots mit der Aufschrift »Arik Einstein« trugen.
Fernseh- und Radiostationen widmeten dem Verstorbenen gleich über mehrere Tage hinweg ihre Sendezeit, Zeitungen füllten ihre Seiten mit Nachrufen, Analysen, Erinnerungen. Noch am Wochenende diskutierte die Journalistin Ayala Hasson im ersten Fernsehprogramm in ihrer üblichen Talkrunde über das »Phänomen Arik Einstein und seine Bedeutung in Israel«. Und auch als Außenstehender versucht man in diesen Tagen zu begreifen, warum der Tod eines Sängers ein ganzes Land paralysiert.
Cool Die drei Musiker in einer Bar in Tel Aviv haben gerade ihre Instrumente zur Seite gelegt, da ertönen die ersten Takte von »Adon Shoko« aus dem Lautsprecher. Spontan singen die Gäste, die gerade noch zum Bluesrhythmus geklatscht haben, das beliebte Kinderlied von Arik Einstein mit. »Ich bin damit aufgewachsen«, sagt Jonathan, ein 30-Jähriger aus Petach Tikwa. »Ich liebe seine Texte.« Sie seien einfach, beschrieben jedoch treffend Situationen und Gefühle, die jeder Mensch im Leben erfahre.
Auch die Person Einstein und wie er sein Leben geführt habe, sei beeindruckend: »Er hat sich nicht vereinnahmen lassen vom Showgeschäft.« Die oberflächliche Glitzerwelt sei ihm egal gewesen. »So etwas gibt es heute selten.« Seine Musik sei irgendwie cool gewesen, sagt Jonathan. Einstein habe den israelischen Rock groß gemacht und viele Künstler entdeckt, Shalom Hanoch und Joni Rechter etwa.
Auch Reuven ist 30 Jahre alt und verehrt den Musiker. Er sei ein Symbol für das Gute in Israel gewesen – »das letzte«. Der Manager des bekannten Café Mersand in der Ben-Jehuda-Straße ist im Wohnviertel Einsteins aufgewachsen und kennt dessen Sohn Amir: »Er ist wie sein Vater – zurückhaltend, humorvoll und voller Tiefe.«
Reuven schwärmt von den »klaren Gedanken« in den Songtexten und der Botschaft, die er dahinter sieht: »Arik Einstein beschreibt, wie Israel einmal war – voller Optimismus, mit geradlinigen Menschen auf dem Weg in eine bessere Zukunft.« Das alles sei verloren gegangen. »Heute geht es darum, wer mehr vom Kuchen bekommt.«
Charisma Verloren scheint auch das gemeinsame Ziel, das Pioniere, Staatsgründer und eine energiegeladene Nachfolgegeneration noch vereinte. »Wir sind eine gespaltene Nation«, beschreibt es Orna Geffen, eine 50-Jährige aus Tel Aviv: »Juden gegen Araber, Arm gegen Reich, religiöse Israelis gegen säkulare.«
Arik Einstein verkörpert für sie mehr als jeder andere das Leben in der Stadt Tel Aviv: »In seinen Filmen wird ein Stück des Lebensgefühls der 70er-Jahre vermittelt: die Leichtigkeit, der Witz.« Ihr persönliches Lieblingslied ist »Atur Mitzchech« – eine poetische Liebeserklärung eines Mannes. Orna erinnert sich an ein Konzert von ihm: »Er sang es ohne Kitsch und Schmalz, ganz natürlich, und genau deshalb musste ich weinen.«
Einstein bestach durch sein Charisma, das hört man in Gesprächen über den Sohn eines Schauspielers immer wieder. Und er traf bei seinen Auftritten genau die richtige Balance: sich einerseits zu öffnen und doch die Distanz zu wahren.
Er vereinte alles in einer Person – Tröster, Ratgeber, Vaterfigur, heimlicher Liebhaber, Frauenversteher und Macho, kritisch und gleichzeitig loyal gegenüber seinem Heimatland –, bis er sich vor rund 20 Jahren aus der Öffentlichkeit zurückzog. Er gab keine Konzerte mehr, komponierte und textete zwar weiter, ohne damit jedoch die einstige Aufmerksamkeit wiederzuerlangen. Die Lieder zum Tod Yitzhak Rabins und über das Schicksal Gilad Schalits waren zwei seltene Meilensteine der jüngeren Vergangenheit.
Rückzug Viele spekulieren über die Gründe seines Rückzugs – es war wegen seines schweren Autounfalls, sagen die einen. Andere, wie der Medienwissenschaftler und Kolumnist Liel Leibowitz in seinem Nachruf, gehen weiter: »Einstein weigerte sich, vor die Tür zu treten, weil die Nation, deren Musik er über ein Jahrzehnt mehr prägte als irgendjemand anders, nicht mehr existierte.« Sein Tod sei traurig, aber fast bedeutungslos: »Er war ja schon längst nicht mehr da.«
Das stimmt nicht ganz. Denn es gibt viele, darunter auch Hebräischlernende aus Deutschland, die ihre ersten Sprachkenntnisse mithilfe von Liedern wie Einsteins »Ani veata« erwarben. Und die Tränen lachten, als sie zum ersten Mal Sketche von Lool auf YouTube sahen – auch so lebt Arik Einstein weiter.