»Eine Weisheit, die man für sich behält, ist für nichts gut«, lautet ein äthiopisches Sprichwort. Racheli Yaso zitiert es, als sie vor der Synagoge in Jemin Orde steht, einem Dorf in der Nähe der israelischen Hafenstadt Haifa. Es befindet sich an den Ausläufern des Karmelgebirges, direkt am Meer. Bananen wachsen im Umland, Weintrauben, Olivenbäume. Es ist ein ruhiger, friedlicher Ort, an dem sich die 36-Jährige um sozial benachteiligte Jugendliche kümmert.
Die Frau, die alle nur Racheli nennen, trägt die gekräuselten Haare zum Zopf gebunden, eine schwarze Jacke zum weiten Rock. Ihre Sätze sind intensiv, sie rütteln und schütteln einen im Innern und deuten darauf hin, worauf es ankommt im Leben. »Wenn du etwas weißt, das anderen hilft«, sagt sie, »musst du es teilen.« Es sei wie bei einer Kerze, deren Sinn es sei zu leuchten und nicht abgewandt vom Geschehen in einer dunklen Box zu verharren.
tradition In Jemin Orde leben Kinder und Jugendliche, die Rachelis Ratschläge gut gebrauchen können. Das Dorf wurde 1953 gegründet, um Waisen- und Flüchtlingskindern, die den Holocaust überlebt hatten, ein Zuhause zu bieten. Für sie sollte Jemin Orde »eine Quelle des Trosts und der Ermutigung« sein, sagt Chaim Peri, der das Schuldorf seit mehr als drei Jahrzehnten leitet. Später, in den 60er- und 70er-Jahren, waren es vornehmlich jüdische Jugendliche aus Nordafrika, dem Iran und Jemen, um die sich die Erzieher in Jemin Orde kümmerten. Danach folgten Kinder und Jugendliche vor allem aus Äthiopien, Ländern der ehemaligen Sowjetunion und Brasilien.
Sie kamen mit oder ohne ihre Eltern nach Israel, weil das sogenannte Rückkehrgesetz es ihnen ermöglicht: Wer Jude ist oder nahe jüdische Verwandte hat, darf aus allen Teilen der Welt nach Israel einwandern. Im Hebräischen ist seit dem babylonischen Exil auch von der »Alija« die Rede, also vom »Aufstieg« ins Gelobte Land.
Unbegleitete, minderjährige Einwanderer werden in Jugenddörfern wie Jemin Orde verstreut im ganzen Land einquartiert. Lange galten diese Einrichtungen als Kaderschmiede für die künftige Elite: Staatspräsident Schimon Peres, Multimillionär Haim Saban und einflussreiche Politiker, Richter und Professoren machten in Jugenddörfern ihren Schulabschluss.
Die 400 Schüler von Jemin Orde sind zwischen 14 und 17 Jahre alt. Gut ein Drittel von ihnen stammt aus Äthiopien. Seit 2013 die äthiopische Alija von der israelischen Einwanderungsbehörde für beendet erklärt wurde, nimmt das Schuldorf auch neue Zielgruppen in den Blick: Vier muslimische Jugendliche, Flüchtlinge aus dem sudanesischen Darfur, besuchen derzeit das Internat. Früher wurde es ausschließlich von der Einwanderungsbehörde getragen. Seit einigen Jahren wird es zu 67 Prozent vom Bildungsministerium und zunehmend auch über Spenden finanziert.
therapie Die Besonderheit des Internats liegt darin, dass der Bildungsansatz weit über das rein Schulische hinausgeht. Jemin Orde will Jugendlichen ein Zuhause bieten. »Es braucht ein ganzes Dorf, um ein Kind zu erziehen«, besagt ein afrikanisches Sprichwort. Daran angelehnt ist auch das Konzept des Internats. Schulleiter Chaim Peri schreibt in seinem Buch Der Weg des Dorfes: »Unser Ziel ist es, die Qualität und tieferen Strukturen eines humanen Dorfes in einer pädagogischen Einrichtung zu reproduzieren.«
Da viele Jugendliche als Flüchtlinge Traumatisches erlebt haben, werden in den ersten neun Monaten des Aufenthalts in Jemin Orde neben Schulfächern auch Kurse angeboten, die auf die »Heilung des Herzens« zielen, im Hebräischen »Tikkun Halev« genannt. Erzieher und Schüler sprechen darüber, was schmerzhaft war in der Vergangenheit, wohl wissend, dass Heilung ein lebenslanger Prozess sein kann.
Die Schüler lernen zudem, dass sie der Welt etwas zurückgeben sollen, wenn sie dazu in der Lage sind. »Tikkun Olam« – »Heilung der Welt« heißt dieser alte rabbinische Grundsatz. Wer bin ich? Was kann ich? Was will ich sein? Mit diesen Fragen werden die Schüler konfrontiert. Sie lernen, die Vergangenheit wertzuschätzen, die eigene Zukunft in den Blick zu nehmen und die Gegenwart nicht aus den Augen zu verlieren.
Falascha Auch Racheli Yaso ist das zugutegekommen. Ihre ersten sieben Lebensjahre verbrachte sie in Äthiopien. Es war die Zeit, als der Diktator Mengistu Haile Mariam die Rechte der jüdischen Minderheit beschnitt. Als im Winter 1984/85 zudem eine Dürre das Land heimsuchte, starb rund eine halbe Million Äthiopier bei einer der schlimmsten humanitären Katastrophen nach dem Zweiten Weltkrieg. Racheli, ihre Eltern und Geschwister flohen in den Sudan, wo sie mit Zehntausenden in Flüchtlingslagern ausharrten. Rettung kam für die Familie erst, als der israelische Staat äthiopische Juden – die sogenannten Falascha – aus dem Sudan ausfliegen ließ. Während der Operationen »Moses« und »Joschua« wurden rund 8000 von ihnen per Luftbrücke nach Israel gebracht. Rachelis Vater arbeitete zu dieser Zeit für den Mossad, half Flüchtlingen bei der Ausreise und folgte der eigenen Familie kurz darauf.
Sie waren in Sicherheit, lebten in einem Auffangheim nahe Haifa. Und doch: Es gelang ihnen nicht, in der neuen Heimat mit ihrem rasanten Tempo Schritt zu halten. »Wenn du aus einer Region kommst, wo morgens der Hahn kräht, um dich zu wecken, ist es nicht einfach, in Israel klarzukommen«, sagt Racheli. Sie schnippt mit den Fingern, einmal, zweimal. »Hier ist
das Leben schnell, schnell, manchmal zu schnell.« Da blieben manche auf der Strecke.
Ihre Eltern passten sich an, so gut sie konnten. Aber schon die Sprache bereitete Schwierigkeiten. Wann immer ein Besuch beim Arzt oder Sozialamt anstand, mussten Racheli und ihre Geschwister die Eltern begleiten, um ins Amharische, deren Muttersprache, zu übersetzen. »Es gibt Familien, da werden die Kinder die Eltern der Eltern«, erzählt Racheli. In ihrem Fall sei das eine große Überforderung gewesen, für beide Seiten. Mit 14 Jahren schickten ihre Eltern sie deswegen auf ein Internat: nach Jemin Orde.
erfolgsstory Racheli schaut zum Eingang der Mensa. Gleich gibt es Mittagessen. Die ersten Schüler treffen ein, viele tragen weite Pullover, deren Kapuzen ihnen tief ins Gesicht hängen, als wollten sie das Geschehen aus der Tarnung heraus beobachten. Racheli ahnt, wie sie fühlen. Auch sie habe zunächst allem und jedem misstraut, erzählt sie. Näher darauf eingehen möchte sie nicht. Schließlich hat sich viel verändert seitdem: Racheli schloss die Schule in Jemin Orde ab, leistete ihren Militärdienst, studierte Sozialwissenschaft und Kriminologie und bewarb sich vor sechs Jahren in dem Jugenddorf, durch das sie seitdem Besuchergruppen führt.
Da sie keine pädagogischen Aufgaben hat, sagt sie, komme sie mit Schülern umso besser ins Gespräch über den Alltag, die Schule und das, was sie bewegt. Dabei wolle sie ihnen Orientierung geben, Vorbild sein – als eine ehemalige »Jugendliche mit erhöhtem Risiko«, die es allen Widrigkeiten zum Trotz geschafft hat, das Leben anzupacken.
Menschenbild Dass ihr das gelungen ist, habe sicher mit dem Rückhalt ihrer Eltern zu tun, den sie über all die Jahre erfahren hat, erzählt Racheli. Außerdem mit dem positiven Menschenbild, das der Erziehung in Jemin Orde zugrunde liegt, sowie dem Einfluss der Menschen selbst, die dort arbeiten. Ein Gedanke, den ein Lehrer ihr mit auf den Weg gab, war für sie so etwas wie eine Initialzündung. »Was machst du mit deinen 24 Stunden?«, hatte er sie gefragt. »Du kannst herumlaufen und jeden hassen. Oder du überlegst dir, wie du die Zeit sinnvoller nutzt.«
Es sind Ratschläge wie diese, die Racheli heute an die Schüler in Jemin Orde weitergibt. »Hör auf zu denken, dass du bedürftig bist«, sagt sie ihnen manchmal. »Du bist wichtig. Für dich, die Welt, das Land.« Und: »Du kannst nicht scheitern, ganz gleich, was auch passiert.«
Auch Tiggi, einer Schülerin, sagte sie das. Tiggi wollte sich das Leben nehmen. Als der Versuch misslang, wurde sie in eine Klinik gebracht. Racheli besuchte sie dort, sprach ihr Mut zu. Sechs Monate später kehrte die junge Frau nach Jemin Orde zurück. »Es gab danach Höhen und Tiefen«, erzählt Racheli. Aber Tiggi habe sich stabilisiert – immerhin.
vertrauen »Kein Kind darf scheitern. Wir geben niemanden auf«, sagt Racheli in Anlehnung an das Konzept der Schule. Jemin Orde geht dafür ein Versprechen ein. Es gilt 365 Tage im Jahr, ein Leben lang. Wieder liegt ein warmer Klang in ihrer Stimme, als sie davon erzählt. Und ihr Rezept, um Zugang zu den Jugendlichen zu bekommen? »Du musst echt sein«, sagt sie. »Du darfst nie vorgeben, perfekt zu sein. Sonst hört dir niemand zu.« Und: »Du darfst nicht nur von Vertrauen reden, du musst es auch schenken.«
Wie das aussieht, erläutert sie an einem persönlichen Beispiel. Kürzlich habe ein Junge aus dem Jugenddorf angeboten, Rachelis dreijährigen Sohn mit zum Spielplatz zu nehmen. Später wurde ihr klar, dass der Junge prüfen wollte, ob sie ihm genug vertraute, um ihren Sohn in seine Obhut zu geben. Sie tat es, bestand den Test, ganz intuitiv.
Ein anderes Mal bat ein Schüler sie, mit dem Rauchen aufzuhören. Sie gab ihm ihr Versprechen. »Gott, hilf mir aufzuhören!«, habe sie danach jeden Tag gebetet, erzählt Racheli und lacht. »Die Zigarette habe ich dabei in der Hand gehalten.« Gut drei Monate ist es nun her, dass sie nicht mehr raucht. Das ist gut. Aber wichtig ist Racheli vor allem, dass sie ihr Wort gehalten hat und glaubwürdig geblieben ist – eine solide Grundlage, um auch mit anderen Jugendlichen ins Gespräch zu kommen und den ein oder anderen guten Rat weiterzugeben.
www.yeminorde.org