Kein Teilen des Pausenbrotes, kein Ausleihen von Stiften oder Radiergummis, keine Umarmungen oder großen Pausen mit Freunden. Die Regeln in der Schule sind streng geworden. Und doch war die Vorfreude bei den Mädchen und Jungen in Israel vor diesem ersten Schultag so groß wie selten zuvor. Nach sieben Wochen öffneten am Sonntag Grund-, Ober- und Sonderschulen verschiedene Klassen.
Seit 13. März steckten die 2,2 Millionen Schüler in ihren Häusern fest, als Maßnahme gegen die Ausbreitung des Coronavirus. Am vergangenen Freitag beschloss die Regierung, Unterricht in den Klassen eins bis drei sowie elf und zwölf wieder stattfinden zu lassen, nachdem die Zahlen der Genesenen die Zahlen der Neuinfizierten mit Covid-19 überschritten hatten.
Zunächst werden die Klassen eins bis drei sowie elf und zwölf wieder unterrichtet.
Die Religionsschulen öffneten die Klassen sechs und sieben. Viele Stadtverwaltungen, darunter Tel Aviv, Beer Sheva und Bnei Brak sowie die arabischen Gemeinden, hatten sich geweigert, dies zu tun, »weil die Richtlinien völlig unklar sind«, wie sie argumentierten.
Tel Avivs Bürgermeister Ron Huldai erklärte, er sorge sich um die Gesundheit von Schülern und Lehrkräften. Am Sonntagnachmittag gab das Bildungsministerium nach Lehrerprotesten schließlich Richtlinien heraus. Denen zufolge muss die Größe der Klassen halbiert werden, Pausen dürfen nur in kleinen Gruppen abgehalten werden. Außerdem haben die Kinder in den meisten Fällen einen Gesichtsschutz zu tragen und sozialen Abstand von mindestens zwei Metern zueinander einzuhalten.
ABSTIMMUNG Am Dienstag stimmten die lokalen Behörden entsprechend der Vorgaben der Öffnung zu – und die Kinder strömten landesweit in die Schulen. Die restlichen Klassen sollen nach Auskunft des Ministeriums spätestens bis Anfang Juni zurückkehren. In Kindergärten sollen voraussichtlich ab 10. Mai wieder Kinder betreut werden. Israel ist damit eines der ersten Länder weltweit, die nach dem Ausbruch des Coronavirus zumindest teilweise wieder Unterricht abhalten.
Kinder aus Familien, in denen sich Angehörige einer Risikogruppe befinden, sind vorerst vom Unterricht ausgeschlossen, ebenso Lehrer über 65 oder solche, die ein erhöhtes Risiko haben, mit Covid-19 angesteckt zu werden. Jede Familie kann derzeit noch individuell entscheiden, ob sie ihre Kinder in die Schule schickt oder vorübergehend zu Hause behält.
Während sich die meisten Eltern freuen, dass die Schule zumindest teilweise wieder begonnen hat, und weitere Erleichterungen für die Öffentlichkeit in den nächsten Tagen erwartet werden, haben nicht alle Mütter und Väter ein gutes Gefühl dabei. Familie Barsilai lebt in Tel Aviv mit zwei Kindern im Grundschulalter. Moti Barsilai sorgt sich um Hygiene. »Ich glaube nicht, dass es möglich ist, das Bewusstsein bei den recht kleinen Kindern so zu schärfen, dass sie sich in Gruppen vernünftig verhalten. In normalen Zeiten stecken meine Töchter und ihre Freundinnen ständig die Köpfe zusammen. Das wird sich bestimmt nicht abschalten lassen.«
Und doch ist jeglicher Körperkontakt verboten. Die Schüler sitzen in den Klassen meterweit voneinander entfernt und dürfen sich auch in den Pausen nicht zu nahe kommen. Es ist ein Balanceakt für die Lehrer, dies zu beaufsichtigen, ohne die Kinder zu sehr zu verängstigen. Denn vor allem soll mit dem Beginn des Unterrichts ein Grundgefühl der Sicherheit und Routine wiederhergestellt werden, das bei den Kindern im Land durch den Ausbruch des Coronavirus stark gelitten hat.
KRITIK »Es ist sehr traurig anzusehen«, sagt Efrat Cohen, Grundschullehrerin aus Haifa, die am Sonntag wieder unterrichtete. »Die Freunde haben sich seit Wochen nicht gesehen und wollen nur eines, sich fest in den Arm nehmen, losrennen und miteinander spielen. Doch das geht ja nicht.« Dennoch will sie nach vorne schauen. »Wir vermitteln den Kindern, dass die Vorsichtsmaßnahmen lediglich vorübergehend sind und wir alle ganz sicher bald wieder enger zusammenrücken dürfen.«
Wochenlang wurden die Kinder mit »Lernen auf Distanz« unterrichtet, einem Konzept, das aus Unterrichten mit der Zoom-App und eigenständigen Hausaufgaben bestand. Allerdings hatte es dabei viel Kritik gegeben. Eltern hatten sich beklagt, dass es unregelmäßig stattfinde und nur beschränkt sinnvoll sei.
»Immerhin gab es damit etwas Routine am Tag«, finden die Barzilais. »Ohne das Zoomen aber müssen die Eltern den ganzen Tag Lehrer spielen.« Für die daheim bleibenden Kinder gibt es jetzt aber nicht einmal mehr das. Da auch viele Lehrer kleine Kinder haben oder zu Risikogruppen gehören und aus diesen Gründen nicht unterrichten können und zudem die Größen der Klassen verringert wurden, herrscht derzeit großer Mangel an Lehrkräften. Vorerst wird es daher zunächst nur fünf Unterrichtsstunden geben, von acht bis 13 Uhr. Nachmittagsbetreuung wird noch nicht angeboten.
Für Ärger sorgt eine Forderung der Regierung, dass im Juli zumindest ein Teil des verlorenen Unterrichts nachgeholt werden soll.
Für Ärger sorgt eine Forderung der Regierung, dass im Juli zumindest ein Teil des verlorenen Unterrichts nachgeholt werden soll. In Israel sind die Sommermonate Juli und August generell Schulferien. Die Lehrergewerkschaft will nichts von dem Vorschlag hören. »Wir waren die Ersten, die in dieser Krise geholfen haben. Doch jetzt will das Finanzministerium die Lage ausnutzen, macht Stimmung gegen unsere Angestellten, bringt die Eltern auf und versucht, die Lehrer um ihren Sommerurlaub zu betrügen«, lautete die wütende Antwort der Gewerkschaft.
Das Komitee, das die Eltern vertritt, nannte die Reaktion »eine himmelschreiende Missachtung der Eltern, die wochenlang nicht vernünftig arbeiten konnten und im Sommer nun genau dieselben Probleme haben werden«.
ALLTAG Während Erstklässlerin Rona Barsilai seit Dienstag wieder die Schulbank drückt, muss die ältere Schwester Maayan noch warten. Sie besucht die vierte Klasse, und diese Stufe ist bislang nicht eröffnet. Ihre Mutter Sigal Barsilai versteht zwar die Notwendigkeit, den Betrieb in der Schule zu verkleinern, jedoch nicht, dass ein Geschwisterkind zu Hause sitzt, während das andere in die Schule geht.
»Es ging doch bei der Öffnung hauptsächlich darum, dass die Erwachsenen wieder an ihren Arbeitsplatz zurückkehren. Aber das kann ich so nicht«, beklagt sie. Die Softwareentwicklerin arbeitet derzeit im Homeoffice, »doch mehr schlecht als recht«, wie sie zugibt, denn »Kinder im Haus haben ständig Bedürfnisse und wenden sich an die Eltern. Das ist ja völlig normal.«
Ihrer Meinung nach ist der Alltag mit nur einem Sprössling im Grundschulalter zu Hause jetzt noch schwerer geworden. »Meiner größeren Tochter ist ohne die Schwester öfter langweilig, sodass ich sie ständig beschäftigen muss.« Außerdem würde die Unsicherheit in einem Kind, das zu Hause bleiben muss, noch mehr wachsen, während das andere in die Schule geht. »Maayan versteht zwar, warum es so ist, doch gleichzeitig ist sie tieftraurig, dass sie ihre Freundinnen nicht sehen darf, und fühlt sich ungerecht behandelt. Als Mutter bricht es mir das Herz.«