Kassel, Baden-Baden, Worms, Berlin – diese Städtenamen kennt in Deutschland jeder. Und genau darum geht es. »Wir wollten, dass die Menschen sofort erkennen, dass es überall geschah«, erklärt Yona Kobo, Kuratorin der neuen Online-Ausstellung Der Schlag kam von innen, die die Holocaustgedenkstätte Yad Vashem zum 80. Jahrestag der Pogromnacht ins Netz gestellt hat.
»In der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 gingen in Deutschland in wenigen Stunden mehr als 1400 Synagogen in Flammen auf. Tausende von jüdischen Geschäften und Betrieben wurden ausgeraubt und zerstört. Der gängigen Zählung zufolge wurden im Laufe des Pogroms 91 Juden ermordet. In den darauffolgenden Tagen wurden etwa 30.000 jüdische Männer von der deutschen Polizei verhaftet und in die Konzentrationslager Dachau, Sachsenhausen und Buchenwald gebracht. Hunderte von jüdischen Gefangenen kehrten nicht aus diesen Lagern zurück«, beschreibt es der Eröffnungstext.
ERINNERUNG »Das Erste, woran viele Menschen denken, wenn sie den Begriff Pogrom- oder Kristallnacht hören, sind tatsächlich die brennenden Synagogen«, so Kobo. »Aber wir wollen mit den persönlichen Geschichten in der Ausstellung mehr von den Erlebnissen und Geschichten erzählen, die dahinterstehen.«
Gleichzeitig gedenke man damit der Menschen, die getötet, sowie der Familien, die zerstört wurden. »Es ist sehr eindringlich, wenn man die Berichte liest und die Fotos dazu sieht.« Yad Vashem bemühte sich, so viele Fotografien der Porträtierten und ihrer Angehörigen wie möglich zu finden und zu veröffentlichen. »Das ist unsere lebende Erinnerung an die Menschen, die von den Nazis ermordet wurden«, sagt Kuratorin Yona Kobo.
Anhand zahlreicher persönlicher Zeugnisse, Erzählungen, Fotografien und Artefakte wird der brutale Schlag verdeutlicht, den die Juden während der Pogromnacht 1938 erlitten: körperliche Gewalt, Sachbeschädigungen, die Schändung und Zerstörung von Synagogen sowie der schreckliche Anblick von heiligen Büchern und Torarollen, die in Flammen aufgingen.
So wie es beispielsweise in Marburg geschah.
In der Ausstellung heißt es: »Die Synagoge im byzantinischen Stil in der Universitätsstraße wurde 1897 eingeweiht und bot Platz für mehr als 400 Menschen. In der Nacht des 9. November wurde sie von Marburger SA-Männern in Brand gesteckt. Die robusten Mauern des Gebäudes, die das Feuer überstanden hatten, wurden am darauffolgenden Tag gesprengt. Die Abbruchkosten musste die jüdische Gemeinde tragen. Während des Pogroms wurden 37 jüdische Männer verhaftet und nach Buchenwald deportiert.«
KRAFT Die Texte und Videos in der Ausstellung sind informativ und gleichzeitig kurz und knapp. »Es ist schwerer, etwas zu kürzen, als es ausführlich zu beschreiben. Das Aussortieren dabei ist nicht leicht.« Doch besonders im Internet ist dies unumgänglich, weiß die Kuratorin: »Die wenigsten Menschen haben die Geduld, im Netz lange Texte zu lesen. Sie wünschen sich kurze Beschreibungen und einen Wechsel von Bildern sowie Audioelementen und Videos«.
Um möglichst viele Menschen zu erreichen, müssten die Beiträge auch bewegend und kraftvoll sein. Das sind sie durchaus. Die Augenzeugenberichte schildern aus ganz persönlicher Sicht, was in der schrecklichen Nacht geschah. So wie Benno, der im Kinderheim von Dinslaken aufwuchs, das auf brutale Weise verwüstet und für die Waisen unbewohnbar wurde.
Das Konzept der Website ist den deutschsprachigen Besuchern angepasst, etwa bei der Auflistung der Städtenamen. »Wir wollen sie da abholen, wo sie sind, mit Dingen, die ihnen bekannt sind.« Auf detaillierte Schreckensszenarien verzichtet die Ausstellung komplett, »weil wir auch jüngere Menschen erreichen wollen, und weil es Hoffnung geben muss«.
Dafür lässt Der Schlag kam von innen Überlebende zu Wort kommen, die nach Israel ausgewandert sind. Wie Ehud Loeb, der über die Pogromnacht berichtet, die ihn als Viereinhalbjähriger traumatisierte. Er erzählt, wie er von Bühl über Verstecke in Waisenhäusern sowie bei Familien über Frankreich und die Schweiz nach Jerusalem kam. »Damit«, sagt die Kuratorin, »feiern wir in gewisser Weise das Überleben, die Entstehung des Staates Israel und dessen 70. Geburtstag als Heimat der Juden.«
PUPPE Eine der eindringlichsten Geschichten in der Ausstellung ist die von Lore Mayerfeld, geborene Stern, und ihrer Puppe Inge: Kurz bevor die Nazis in das Haus eindrangen, gewährten die Nachbarn Lore und ihrer Mutter Käthchen Schutz in ihrem Haus. Lore war gerade zwei Jahre alt. Nach dem Pogrom fanden Mutter und Tochter ihr Zuhause vollkommen zerstört und unbewohnbar vor. Sie mussten in das Haus von Käthchens Mutter ziehen.
Nach sechs Wochen im Konzentrationslager Buchenwald kam Lores Vater Markus frei. Doch nur unter einer Bedingung: Er sollte Deutschland so schnell wie möglich verlassen. Durch seine Kontakte gelang es ihm, ein Visum für die USA zu beschaffen. Dort angekommen, setzte er alles daran, auch für seine Frau und Tochter Visa zu bekommen und sie vor den Nazis zu retten. Es dauerte fast zwei Jahre, bis er Erfolg hatte.
»Als meine Mutter und ich nach Amerika aufgebrochen sind, konnten wir fast nichts mitnehmen. Meine Puppe Inge, der ich einen ganz deutschen Namen gegeben hatte, war eines der ganz wenigen Dinge, die wir bei uns hatten«, erinnerte sich Lore Jahrzehnte später mit Tränen in den Augen.
Der Puppe, die sie zum Geburtstag von ihrer Großmutter geschenkt bekommen hatte, zog sie denselben Pyjama an, den sie in jener unheilvollen Nacht der Novemberpogrome getragen hatte. Er war ihr mittlerweile zu klein geworden. Im September 1941 legte das Schiff im Hafen von New York an. Die Familie war wieder vereint.
Erst nach dem Krieg erfuhren Markus und Käthchen, dass die meisten Familienmitglieder im Holocaust ermordet worden waren. 1991 wanderte Lore Mayerfeld nach Israel aus. 2018 übergab sie ihre Puppe Inge an die Jerusalemer Gedenkstätte Yad Vashem. Bis heute trägt sie den Schlafanzug der kleinen Lore.