Meron

Kontrollverlust

Die Katastrophe zeigt, dass religiöse Stätten in Israel nicht für Massenversammlungen ausgelegt sind

von Sabine Brandes  06.05.2021 09:15 Uhr

Dichtes Gedränge auf dem Berg Meron unmittelbar vor dem Unglück Foto: Flash 90

Die Katastrophe zeigt, dass religiöse Stätten in Israel nicht für Massenversammlungen ausgelegt sind

von Sabine Brandes  06.05.2021 09:15 Uhr

Israel steht unter Schock. Bei der Katastrophe von Meron starben 45 Menschen. Experten fordern jetzt sofortige Konsequenzen beim Umgang mit Massenversammlungen in religiösen Stätten, weil sie ihrer Ansicht nach im Heiligen Land alles andere als sicher ablaufen. Wenn es so weitergehe, fürchten Fachleute, sei es nur eine Frage der Zeit, bis das nächste Unglück geschieht.

Bruria Adini, Leiterin der Abteilung für Notfallmanagement und Katastrophenmedizin an der Universität Tel Aviv, erklärt, dass es für Großveranstaltungen in Israel genaue Vorschriften für Sicherheitskräfte gibt: »Ob in Parks, Stadien oder Hallen, es existieren für jede Art von Veranstaltung Bestimmungen.« Bei religiösen Stätten sei dies jedoch anders. »Zwar unterliegen auch sie den Vorgaben der Regierungsbehörden, sie sind jedoch im Besitz privater religiöser Körperschaften und werden von ihnen verwaltet.«

EINFLUSS Die Regierung könne Beschränkungen erlassen, so Adini, und tue dies in besonders sensiblen Bereichen, beispielsweise aus Sicherheitsgründen an der Kotel oder dem Tempelberg in Jerusalem, »doch größtenteils bestimmen die religiösen Einrichtungen über den Ablauf einer Veranstaltung, wie viele Menschen eingelassen werden und anderes. Die Regierung hat wegen des besonderen Status der religiösen Stätten viel weniger Einfluss«.

Im Gegensatz dazu gebe es etwa bei Fußballspielen oder anderen Großveranstaltungen exakte Vorgaben. Der Veranstalter oder Produzent muss vorher die Genehmigungen der verschiedenen Behörden einholen, darunter von Polizei und Feuerwehr. Auch sei die Anzahl der Teilnehmer limitiert. Auf einen Quadratmeter soll nicht mehr als eine Person kommen.

In religiösen Stätten sei diese Vorgabe viel schwerer durchzusetzen. Von »Anarchie« aber wolle Adini dabei nicht sprechen. Der Berg Meron werde hauptsächlich von vier religiösen Gruppen kontrolliert, die über alles entscheiden, von der Verwendung der Gelder über Renovierungen bis zum Ablauf der Veranstaltungen. Zwar existiere eine gewisse staatliche Überwachung, und es würden Richtlinien gelten, etwa für Bauten, »doch im Großen und Ganzen werden diese Stätten gemanagt, als handele es sich um private und keine öffentlichen Einrichtungen«.

untersuchung Bei der in Auftrag gegebenen Untersuchung werde sich herausstellen, welche Umstände zu der Katastrophe geführt haben. Eines aber ist für Adini bereits klar: »Es hätte vermieden werden können.« Denn bei dem Unglück von Meron habe es sich um keine Naturkatastrophe gehandelt, die man nicht vorhersehen konnte. »Im Gegenteil, hier kannten wir die Orte, Wege und wussten, welche Probleme es gibt. Alles wurde immer wieder durchexerziert – und das seit vielen Jahren.«

Jahrelang wurde versucht, die Infrastruktur auf dem Berg zu verbessern.

Doch man habe dort nicht einen Stein bewegen dürfen, ohne nicht sofort die Opposition der charedischen Gruppen hervorzurufen, erklärte jetzt der einstige Vorsitzende des Regionalrates Merom HaGalil, in dem der Meron und der Grabkomplex von Rabbi Schimon Bar Jochai liegen. Jahrelang habe Schlomo Levy versucht, die Infrastruktur auf dem Berg zu verbessern, »doch es gab keine Chance«.

KORRUPTION Nachdem er sich zehn Jahre lang mit dem Thema beschäftigt hat, ist er sicher: »Man muss den Ort jenen entreißen, die ihn im Würgegriff halten. Es gibt Korruption, es geht um Geld und Egoismus. Es gibt alles, nur keine Gottesfurcht.« Er habe lange versucht, die Regierung zu überzeugen, einen Plan durchzusetzen, der einer einzigen Behörde die Verantwortung für die Stätte übergibt, so wie es an der Kotel geschehen ist. Bislang ohne Erfolg.

Adini weiß, dass es auch für den Berg Meron einen Plan gab. »Doch so viel ist falsch gelaufen. Allen voran waren viel zu viele Menschen da, es gab nicht ausreichend Notausgänge und Zufahrten für Rettungskräfte. Und die, die es gab, waren von Menschenmassen versperrt.«

Die Expertin weiß, dass bei derartigen Veranstaltungen die Kommunikation zwischen den unterschiedlichen Sicherheitskräften extrem wichtig ist. »Doch auch die hat versagt.« Dabei sei der Berg Meron nicht die einzige heilige Stätte, die große Sicherheitsrisiken berge.

GRABESKIRCHE Auch die Grabeskirche in Jerusalem gehöre dazu: »Sehr viele Menschen besuchen diese Kirche, doch es existiert lediglich ein Eingang, der gleichzeitig Ausgang ist. Im Innern gibt es verschiedene enge Treppen. Das birgt alles große Gefahren.«

Doch wie bei den meisten heiligen Stätten, so spielen auch an diesem Ort religiöse Befindlichkeiten eine große Rolle. Über die Verwaltung der verschiedenen Teile der Kirche streiten die unterschiedlichen Strömungen des Christentums seit ewigen Zeiten. Sogar ein vergessener Putzeimer kann zu lautstarken Auseinandersetzungen und sogar Handgreiflichkeiten führen. Adini ist besorgt: »Die Grabeskirche ist ein sehr riskanter Ort.«

Sie hofft, dass die Tragödie von Meron dazu führt, dass die Strukturen des Umgangs mit Veranstaltungen in den religiösen Stätten verändert werden – »und dass nur noch eine Behörde der Regierung verantwortlich ist«.

CROWD SOLUTIONS Dass Konsequenzen gezogen werden, ist auch der Wunsch von Gründer und Geschäftsführer des Unternehmens »Crowd Solutions«, Ofer Grinboim Liron. Seiner Meinung nach gibt es zwei Hauptgründe für das Unglück. »Zum einen war es der Mangel einer verantwortlichen Stelle oder Person, zum anderen das Ignorieren der Warnungen seit zwei Jahrzehnten.«

Selbst wenn die Polizei für die Sicherheit verantwortlich war, habe sie doch niemanden gehabt, mit dem sie sich absprechen konnte, kritisiert er. Er bestätigt, dass es zwar Vorgaben der Polizei für Massenveranstaltungen gebe, doch keinerlei Gesetz.

Der Experte fordert, dass die Regierung die Kontrolle übernimmt und die komplette Stätte als eine Einrichtung mit besonderen Sicherheitsvorkehrungen umbaut. Und dann müsse ein professionelles Massenmanagement eingeführt werden.

risiken In Deutschland etwa gebe es keine Großveranstaltung ohne Crowd Management. Ein Areal oder Gebäude werde vor einer Veranstaltung untersucht, analysiert, die potenziellen Risiken werden festgestellt und anschließend behoben. Währenddessen werden Techniken eingesetzt, die die Menschenmassen kontrollieren, beispielsweise das sogenannte »hold and flow«. In Israel allerdings werde Crowd Management nicht angewandt, weiß er.

Das müsse sich dringend ändern, betont Grinboim Liron eindringlich. »Bei Festivals, Shows, Sportwettbewerben, auf Bahnhöfen – und auch bei religiösen Veranstaltungen.« Es brauche einen kontrollierten Umgang mit Menschenmassen. »Und dann«, ist er überzeugt, »wird es eine Dynamik geben, die keine Katastrophe mehr zulässt.«

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