Claire Cohen wusste schon vorher, dass sie die Boulangerie an der Ecke vermissen würde, ihre Lieblingsläden auf der Rue de Rosiers und die Synagoge, in der sie jeden Schabbat ihre Freunde traf. »Paris ist meine Stadt«, sagt sie wehmütig, während sie den Strand von Tel Aviv entlangschlendert.
Doch jetzt hat die Französin ihrer alten Heimat den Rücken gekehrt und ist nach Israel gezogen. Mit einer Steigerung um 300 Prozent im Vergleich zum selben Zeitraum im Vorjahr erreichte die Einwanderung von französischen Juden nach Israel in den vergangenen Monaten ihren Höhepunkt. Sogar während des Gazakrieges kamen Hunderte – nicht ein Einziger habe es sich anders überlegt, sagt die Jewish Agency.
Vor allem wegen des dramatischen Anstiegs des Antisemitismus in Europa sei die Zahl in die Höhe geschossen, so Natan Sharansky, Vorsitzender der Jewish Agency. Bis Ende des Jahres werde die Zahl der Franzosen, die 2014 einwandern, voraussichtlich die 5000-Marke überschreiten, verkündete er.
Damit hätte ein Prozent der gesamten jüdischen Bevölkerung in Frankreich in nur einem Jahr die Koffer gepackt. »Niemals zuvor hat es in unserer Geschichte eine derart große Zahl von Mitgliedern einer Gemeinde in der freien Welt gegeben, die in diesem Zeitraum nach Israel einwanderten«, fügte Sharansky hinzu.
Krieg Sogar mitten im Krieg kommen sie mit Sack und Pack nach Israel. Zwei Wochen nach Beginn der Militäroffensive »Protective Edge« erreichten 430 Neueinwanderer das Gelobte Land, darunter 195 Kinder und Jugendliche sowie 18 Babys. Die meisten stammen aus Paris und dessen Vororten. Dutzende zogen nach Aschdod und Aschkelon – Städte, die sich seit Monaten unter Dauerbeschuss der Hamas befinden. »Eure Alija ist die beste Antwort auf die Raketen«, begrüßte Sharansky die Immigranten. Einwanderungsministerin Sofa Landver sagte in Anlehnung an das Raketenabwehrsystem: »Alija ist unser nationaler Iron Dome.«
Zwar sei die Jewish Agency nicht dafür verantwortlich, dass so viele Franzosen das Land verlassen wollen, doch »dass Israel ihr Ziel Nummer eins ist, ist Beweis für unseren Erfolg, sie an den jüdischen Staat zu binden«. Cohen bestätigt das. Sie hat sich vor ihrer Einwanderung alle Informationen bei der Agentur geholt und fühlt sich »bestens beraten«.
Außerdem verbrachte die Familie jedes Jahr ihren Sommerurlaub in Israel, kannte das Land schon vor ihrer Einwanderung gut. »Das hat uns sehr bei der Entscheidung geholfen. Wir wussten ja mehr oder weniger, was auf uns zukommt.« Dass ihr Sohn an einem Jugendprogramm der Jewish Agency teilgenommen hat, sei sicher einer der Gründe, dass er sich so schnell eingelebt habe. Alain ist 13 Jahre alt und geht in die 8. Klasse einer Tel Aviver Oberschule, sein Bruder ist zwei Klassen unter ihm.
Wenn sie erzählt, warum die Familie »ihre Stadt« hinter sich gelassen hat, verdüstert sich Cohens Blick: »Wir haben uns einfach nicht mehr sicher gefühlt. Immer wieder wurde jemand aus der Gemeinde auf offener Straße angepöbelt oder bespuckt, weil er eine Kippa oder einen Davidstern trug. Die meisten dieser Vorfälle tauchen nicht in Medien auf, doch für uns bedeuteten sie eine täglich wachsende Sorge. Ich wollte einfach nicht, dass meine Kinder Angst haben müssen, wenn sie die Schule verlassen oder sich mit Freunden treffen oder dass, um Gottes Willen, erst etwas Schreckliches geschehen muss, damit wir reagieren.«
Krise Das Gefühl der Bedrohung ist nach den vermehrten antisemitischen Übergriffen in Frankreich Hauptgrund für Juden, der alten Heimat Adieu zu sagen. Von den 7912 Menschen, die von Januar bis Mai Alija gemacht haben, waren 2254 Franzosen.
Auch die Krise in der Ukraine bewog die Menschen zum Verlassen ihres Landes: 1587 kamen in den ersten Monaten des Jahres in Israel an, eine Steigerung um 132 Prozent. Und es sollen noch mehr werden. Angesichts des steigenden Antisemitismus in Europa haben Regierung und Einwanderungsministerium einen Notfallplan ins Leben gerufen, der Juden in Europa, allen voran in der Ukraine, aufrufen soll, nach Israel zu immigrieren. 20 Millionen Euro lässt sich die Regierung diese Kampagne kosten.
Dafür ist extra ein Unternehmen gegründet worden, das die Alija ankurbeln soll. Anders als die Jewish Agency wird diese Firma in Europa nicht denselben Restriktionen unterliegen wie Regierungseinrichtungen. Familien aus »Hochrisikozonen« erhalten umgerechnet 3000 Euro Zuschuss. Vor allem Einwanderern aus der Ukraine soll so der Start erleichtert werden. Die meisten von ihnen haben ihren gesamten Besitz zurückgelassen und sind nur mit einigen Koffern in Israel angekommen.
Für Franzosen gibt es das Regierungsprogramm »France First«. »Israel ist ein Einwanderungsland«, sagte Sofa Landver bei Gründung des Alija-Unternehmens. »Es ist bereit, Juden aus der ganzen Welt aufzunehmen.« Allerdings arbeite das Unternehmen aufgrund der sensiblen Lage diskret. »Dennoch soll die ganze Welt wissen, dass Israel der Ort für Juden ist«, so die Ministerin.
Croissants Anders als etwa die Ukrainer sind die meisten Franzosen wohlhabend. Viele kaufen schon vor ihrer Einwanderung eine Wohnung oder ein Häuschen und machen sich so den Anfang leichter. Wie die Cohens. Seit fast einem Jahr lebt die vierköpfige Familie im Herzen von Tel Aviv – und hat es nicht bereut, wie Mutter Claire beteuert. »Einfach ist es nicht immer. Natürlich.« In vieler Hinsicht sei es ein anderes Leben, sinniert die 40-jährige Designerin. »Etwas unstrukturierter und unerwarteter, aber dafür auch aufregender.«
Und es sei für sie noch immer etwas Besonderes, dass hier fast alle Menschen Juden sind. »Die Kassiererin im Supermarkt, der Bäcker, der Kfz-Mechaniker, der Angestellte in der Bank«, zählt sie auf. »Es ist unsere Heimat, das ist einfach wunderbar!« Und sogar Ersatz für ihre geliebte Boulangerie haben die Cohens schon gefunden: »Die Bäckerei bei uns um die Ecke ist viel besser, als ich gedacht habe. Und sie hat sogar ganz köstliche Croissants.«