Mädchen und Jungen freuen sich, ihre Klassenkameraden zu sehen, Mütter und Väter, dass ihre Sprösslinge wieder einen geregelten Tagesablauf haben. Am 1. September beginnt in Israel traditionell die Schule. Doch die großen Ferien könnten weitergehen, da immer mehr Unterricht ausfällt. In dem kleinen Nahoststaat herrscht ein extremer Lehrermangel.
Und das nicht erst seit Kurzem. Bereits vor dem Sommer hatten die Pädagogen wochenlang gestreikt, um eine Verbesserung ihrer Bedingungen zu erreichen. Die nach Meinung der Lehrergewerkschaft niedrigen Gehälter und schlechten Arbeitsverhältnisse seien die Ursache, warum immer weniger Israelis den Beruf des Pädagogen wählen.
An vielen Schulen sind Eltern bereits dazu aufgerufen, freiwillig und ohne Bezahlung zu unterrichten.
An vielen Schulen sind Eltern bereits dazu aufgerufen, freiwillig und ohne Bezahlung zu unterrichten. Besonders Sprachlehrer fehlen. Sivan Weiss folgte der Bitte der Schulleiterin ihrer Tochter und gibt seit einem Jahr zweimal die Woche eine Stunde Englischunterricht an einer Grundschule in Tel Aviv. Ausgebildete Lehrerin ist sie nicht. »Das stört die Direktorin nicht. Sie sagte: ›Hauptsache, wir haben überhaupt etwas auf dem Stundenplan.«
Pandemie Es sind vor allem die Schüler, die unter dem Lehrkräftemangel leiden. Bei vielen israelischen Familien wirkt zudem noch die Zeit nach, in der die Schulen pandemiebedingt fast durchgehend geschlossen waren, immerhin eineinhalb Jahre lang. Schüler hinken vor allem in Mathematik und anderen Naturwissenschaften hinterher, und die Eltern sind müde vom dauernden Heim-Unterricht.
So auch Sigal Levy. Die Mutter von zwei Kindern aus Tivon in der Nähe von Haifa sitzt seit dem Ausbruch von Corona mehrere Stunden wöchentlich mit ihrem Sohn am Küchentisch und büffelt Mathe. »Das Fach hatte er fast zwei Jahre lang nur mit großen Unterbrechungen. Erst wegen der Pandemie und dann, weil es keine Lehrer gab«, erzählt Levy.
Als Ophir in die siebte Klasse der weiterführenden Schule kam, begann er, im Unterricht Schwierigkeiten zu haben. »Die Lehrer rasen durch den Stoff, weil so viel versäumt wurde, und haben keine Zeit, Schwächeren zu helfen. Nachhilfe in der Schule ist gestrichen, private Stunden können wir uns nicht leisten. Also muss ich mit ihm lernen.«
Ophir und seine Familie sind kein Einzelfall. Wie ihnen geht es heute vielen in Israel. Levy findet es »unverantwortlich«, dass die Lehrer ihre Forderungen mit Arbeitsniederlegung durchdrücken wollen. »Wir alle haben in den vergangenen Jahren verloren. Natürlich sollen Lehrer mehr verdienen. Doch warum gerade jetzt, wo das gesamte Schulsystem von Mangel geprägt ist und unsere Kinder leiden?«
Laut einem aktuellen Bericht des Zentralen Statistikbüros wird die Zahl der Schüler bis 2026 um fast neun Prozent auf zwei Millionen steigen. Dafür muss der Staat im Vergleich zu 2021 zusätzlich 16.000 neue Lehrer finden, ausbilden und einstellen.
gehälter Die Ursachen für den Mangel sind eindeutig: Hochschulabsolventen weigern sich, an Schulen zu arbeiten, und junge Israelis halten sich nach ihrem Armeedienst von Lehramtsstudiengängen fern. Hauptgründe sind die relativ geringen Gehälter, etwas mehr als 6000 Schekel im Monat (etwa 1820 Euro), und der schlechte Ruf des gesamten Bildungssystems. »Es ist eine nationale Krise«, resümierte Bildungsministerin Yifat Shasha-Biton.
»Eltern müssen sich nicht um Lehrerstreiks sorgen«, sagt die Vorsitzende der Lehrergewerkschaft Yaffa Ben-David lakonisch. »Sie müssen sich mehr Sorgen machen, dass es aufgrund des Lehrermangels gar keinen Unterricht gibt.« Bereits im März hatte sie gewarnt, dass es ohne eine neue Vereinbarung mit dem Finanzministerium fast unmöglich sei, die Unterrichtseinheiten vollständig zu gewährleisten.
Etwa 85 Prozent der öffentlichen Schulen leiden vor dem neuen Schuljahr unter dem schwerwiegenden Lehrermangel, wie eine aktuelle Umfrage der Knesset mit 615 Rektorinnen und Rektoren ergab. Die meisten Schulleiter gehen sogar davon aus, dass sich die Situation noch verschlimmern wird.
»Es dauert Jahre, neue Pädagogen zu finden und auszubilden.«
Ram Cohen, Schulleiter der Oberschule Tichonet in Tel Aviv
Die Mangelquote variiert in den Regionen des Landes, wobei Tel Aviv und andere zentrale Regionen eine Quote von etwa 95 Prozent melden, während der Rest des Landes eine Quote von näher an 75 bis 80 Prozent angibt.
Mangel Der Mangel ist auf breiter Front für Gymnasien gravierender als für Grundschulen. 42 Prozent der Befragten gaben an, dass das Fehlen von Lehrkräften in einigen Fächern zu reduzierten Unterrichtsstunden führen könnte. Ein Sprecher gab jedoch an, dass das Ministerium »jeden Stein umdreht, um den Mangel an Pädagogen zu lindern«, und fügte hinzu, dass Maßnahmen ergriffen wurden, um die Zahl der offenen Lehrerstellen von 6000 auf 2000 zu reduzieren.
Am Mittwoch gaben das Finanzministerium und die israelische Lehrergewerkschaft bekannt, dass sie sich nach nächtlichen Marathongesprächen auf einen neuen Tarifvertrag geeinigt haben. Dieser sehe unter anderem vor, neu eingestellten Lehrkräften künftig ein Gehalt von 9000 Schekeln mit Zulagen und Boni zu zahlen.
Der Schulleiter der Oberschule Tichonet in Tel Aviv, Ram Cohen, schrieb zuvor auf Facebook: »Sogar, wenn der Staat die Gehälter um 2000 Schekel erhöht, dauert es Jahre, um neue Pädagogen zu finden, auszubilden und dann einzustellen.« »Ich weiß nicht, was die Zukunft bringt«, schrieb er. Sicher sei jedoch: »Die Starken werden es schaffen. Doch immer mehr Kinder werden dadurch geschädigt.«