Ofir Libstein war der Erste, dessen Tod nach dem Hamas-Überfall am 7. Oktober vermeldet wurde. Der 50-Jährige war Vorsitzender des Regionalrats von Shaʼar HaNegev, vergleichbar mit dem Amt eines Landrats in Deutschland. Er lebte mit seiner Familie im Kibbuz Kfar Aza (zu Deutsch: Gaza-Dorf) in unmittelbarer Nähe des Gazastreifens.
Ofir Libstein wurde getötet, als er sich vor seiner Haustür den ankommenden Terroristen entgegenstellte, um die Kibbuzbewohner zu schützen. In einigen Wochen wollte der Familienvater für eine zweite Amtszeit kandidieren.
Gemeinsames Gewerbegebiet für Israelis und Palästinenser
Als Kommunalpolitiker setzte er sich für die Förderung der Solarenergie, die Landwirtschaft und den Tourismus im westlichen Negev ein. Wäre es nach Libstein gegangen, wäre in unmittelbarer Nähe des Erez-Grenzübergangs zum Gazastreifen ein gemeinsames Gewerbegebiet für Israelis und Palästinenser entstanden.
Mit seiner Frau Vered rief er das Darom-Adom-Festival ins Leben, das auch darauf abzielt, den schlechten Ruf der Region in Israel zu verbessern, die in erster Linie als Einschlaggebiet von Hamas-Raketen wahrgenommen wird.
Anders als manch andere hatte Ofir Libstein viel Verständnis für die Nöte der Palästinenser in Gaza – obwohl die Menschen in der Region »nicht die Erfahrung machen, dass sie (…) mit ihnen Frieden schließen wollen«, sagt der Fotograf Shahar Azran. Er erinnert sich: »Ofir und ich lernten uns vor 15 Jahren bei einem Treffen des Jüdischen Weltkongresses kennen und wurden Freunde. Ofir war auch im Vorstand des Zionistischen Weltkongresses, und es war sehr leicht, zu diesem wunderbaren Menschen eine Verbindung aufzubauen.«
Ofir Libstein sei ein hochintelligenter Mensch gewesen, warmherzig und großzügig, sagt Azran. »Ich hörte ihm gern zu. Seine Argumente waren bestechend. Erst im September besuchte ich ihn gemeinsam mit meiner Frau und einem amerikanischen Blogger, um einen Bericht über die Lage im Gazastreifen zu schreiben. Der amerikanische Blogger war wirklich schockiert, einen waschechten Zionisten zu treffen, der an den Frieden glaubte.«
Daniel Kraft, Sprecher der Bundeszentrale für politische Bildung in Bonn, hat ähnliche Erinnerungen. Obwohl er Ofir Libstein nur ein einziges Mal traf, im Rahmen einer Studienreise der Bundeszentrale nach Israel vor einigen Wochen, war er von ihm angetan. »Wir waren eine Gruppe von 25 deutschen Journalisten und trafen ihn auf einem Hügel in der Nähe von Gaza«, berichtet Kraft.
Ofir Libstein war ein Visionär – er hatte eine Mission
Ofir Libstein habe ein Bild der Lage gegeben, »und es war jedem klar: Da redete ein Visionär, einer, der fest daran glaubte, dass es möglich ist, genau an diesem Ort zusammenzuleben und zu arbeiten, auch mit den Menschen im Gazastreifen«. Libstein sei umtriebig gewesen, und man habe gemerkt, dass er eine Mission habe. »Wir haben auf unserer Tour viele Menschen getroffen, aber Ofir hat bei den meisten von uns den stärksten Eindruck hinterlassen.«
Ofir Libstein wurde 1973 in Eilat geboren. Er entschied sich, in einer für den Zionismus symbolträchtigen und strategisch wichtigen Region zu leben. Der Kibbuz Kfar Aza, fünf Kilometer von der Grenze zur palästinensischen Enklave gelegen, wurde schon zwei Jahre vor der israelischen Staatsgründung 1948 errichtet. Libstein war IT-Unternehmer, richtete Websites für Firmen ein. Eine Zeit lang war er auch Geschäftsführer der Kibbuz-Industrievereinigung, zu der rund 250 Fabriken und Betriebsstätten gehören.
Der Tod des vierfachen Vaters ist nicht der einzige Schicksalsschlag für die Familie: Seit dem 7. Oktober wird auch der Sohn Nizan (19) vermisst. Libsteins Schwiegermutter wurde ebenfalls ermordet. Nicht alle Personen, die diese Zeitung um eine Stellungnahme bat, konnten erreicht werden. Viele waren gerade auf dem Weg zu Beerdigungen.
Shahar Azran erinnert sich an seine letzte Begegnung mit Ofir Libstein: »Wir verabschiedeten uns mit einem Lächeln. Am nächsten Tag schickte er mir eine SMS mit einem Herzchen. Das war die letzte Nachricht, die ich von ihm erhielt.«