Starker Kaffee, starkes Internet, starke Gemeinschaft und jede Menge Ruhe. Auf diese Schlagworte könnte man die Idee von Omer Har-Shai herunterbrechen. Doch der Tel Aviver hat noch mehr zu bieten. Der Gründer von »Gather« will Menschen in der ganzen Welt hinter ihrem Computer hervorholen und ihnen das Landleben schmackhaft machen.
»Jeden Tag zehn Stunden oder mehr am Rechner zu sitzen, ist anstrengend für Körper und Geist.«Omer Har-Shai
Und das nicht irgendwo, sondern inmitten eines Kibbuz. »Für Inspiration, Kreativität und Balance«, wie Har-Shai frohlockt. Das würde man in der sozialistischen Kooperative Israels, die mittlerweile etwas in die Jahre gekommen ist, auf jeden Fall finden.
Freelance So begann es eines Tages bei ihm selbst. Nach Jahren als Freiberufler im Vertrieb von israelischen Filmen und Marketing-Unternehmen in immer anderen Cafés oder Coworking-Spaces fühlte er, dass ihm etwas fehlt. »Es hört sich so fantastisch an: Man steht auf, wann man will, tippt im Café auf dem Laptop herum und hat keine Sorgen.«
Doch die Realität sei oft anders. »Jeden Tag zehn Stunden oder mehr am Rechner zu sitzen, ist anstrengend für Körper und Geist.« Außerdem fehlte ihm das Gefühl, Teil von etwas zu sein und Bedeutendes zu schaffen. »Diese Art des Arbeitens führt oft zu einem ziemlich einsamen Dasein.«
Die in der ganzen Welt immer mehr verbreiteten »remote jobs«, also Arbeit, die jenseits eines Büros oder der Zentrale des Unternehmens erledigt wird, bringt zwar Flexibilität und Freiheit, aber auch ein größeres Bedürfnis, sich mit anderen auszutauschen. »Unsere Welt verändert sich immer schneller, und der Trend, Teil einer Gemeinschaft zu sein, gewinnt zusehends an Bedeutung«, erklärt Har-Shai. »Die Idee, die hinter dem Kibbuz steckt, ist damit wieder ganz aktuell.«
Ägypten Für Har-Shai brachte der Besuch bei einem Freund in Nitzana in der Wüste an der ägyptischen Grenze Klarheit. »Er wollte etwas bauen, und ich half ihm dabei. Jeden Morgen arbeitete ich auf der Baustelle und setzte mich nachmittags an meinen Rechner, um meine Arbeit zu erledigen. Dabei merkte ich, dass ich wesentlich fokussierter, produktiver und kreativer war.« Für ihn ergibt die Mischung aus ländlicher Atmosphäre, Ruhe, Hände-schmutzig-machen und geistiger Arbeit mittlerweile Sinn. »Sie schafft ein ausbalanciertes Leben.«
Morgens Holz hacken und nachmittags Photoshop unterrichten.
Und das würde er gern den digitalen Nomaden von überall her im Kibbuz beibringen. »Als der erste Kibbuz an den Ufern des Kinneret im Jahr 1910 eröffnet wurde, war die Idee, Landwirtschaft unter schwierigen Bedingungen zu betreiben, ebenso praktisch wie utopisch. Denn es bedurfte der kollektiven Aktion«, beschreibt die Website von »Gather«.
Genau dieses Flair möchte Har-Shai wieder schaffen. Statt der rund 300.000 Volontäre, die in den 60er-, 70er- und 80er- Jahren jährlich kamen, sind es heute gerade einmal 500 im Jahr. Geht es nach »Gather«, sollen Mitglieder der digitalen Generation sie ersetzen – Kibbuz reloaded.
»Denn obwohl viele Kibbuzim wirtschaftlichen und sozialen Wandel erlebten, existieren diese einzigartige Atmosphäre, die wunderschöne Umgebung und die Anlagen für die Gemeinschaft noch genauso wie damals.« Er ist überzeugt, dass ein »Abenteuer dieser Art das ist, was viele Freiberufler ab und zu brauchen«.
Negev 270 Kibbuzim gibt es im Land, vom Norden bis an den südlichen Zipfel der Negevwüste. Bislang nehmen die Kibbuzim Kfar Blum in Obergaliläa und Tuval in der Nähe der Stadt Karmiel am »Gather«-Programm teil. Andere befinden sich noch in Verhandlungen.
Für die Unterbringung werden die Kooperativen bezahlt. Einen Monat sollen die Teilnehmer im Kibbuz wohnen, im Speisesaal mit den Kibbuzniks essen und sich vor allem in die Gemeinschaft einbringen. Har-Shai stellt sich eine Synergie zwischen den Mitgliedern der Kooperative und den Gästen vor. »Zum Beispiel bringt einer unserer Teilnehmer den Kibbuzniks Photoshop bei, während er in der Tischlerei lernt, wie man mit Holz arbeitet. Ziel ist es, langfristige Beziehungen zu bilden.«
Yoga »Gather« bietet alles, was der »remote worker« braucht: von der Unterkunft über die Verpflegung oder Küchenbenutzung, den Arbeitsplatz mit stabilem Internet bis zu verschiedenen Angeboten wie Yoga, Meditation, Vorträge oder Wochenendausflüge. »Wir wissen natürlich, dass die Leute, die zu uns kommen, in erster Linie arbeiten wollen, also ist der Zeitplan flexibel.« Vor Ort werden die Teilnehmer von einem »Gather«-Manager betreut – alles inklusive für 2000 Dollar.
Im ersten Durchgang werden 20 Bewerber aufgenommen.
Mehr als 300 Frauen und Männer haben sich mittlerweile beworben, um im Januar 2020 dabei zu sein. Die meisten sind Freiberufler, doch es gibt auch einige Festangestellte, die sich eine Auszeit gönnen wollen. Darunter sind Webdesigner, Journalisten oder Schriftsteller aus den USA, Südamerika, Kanada und verschiedenen europäischen Ländern. 20 werden im ersten Durchgang aufgenommen, noch sind einige Plätze frei.
Neugier Wichtigste Eigenschaften seien Aufgeschlossenheit und Neugier. Zwar sei die Mehrheit der Bewerber Ende 20 bis Mitte 30, doch auch Leute über 50 sind willkommen. »Es geht um die Einstellung zum Leben und die Bereitschaft, Teil einer Gemeinschaft zu werden, nicht um eine Zahl.« Der Kibbuz sei immer noch ein Begriff und stehe für etwas Besonderes, sagt Har-Shai. »Wir wollen das Beste aus den wundervollen Gemeinschaften herausholen, die schon existieren – für beide Seiten. Zwar mit dem Laptop unterm Arm, aber gern auch mit einem Hauch Nostalgie.«