Täglich wächst die Staubschicht. Nicht eins der 70.000 Bücher wird mehr aufgeschlagen, niemand sitzt an den Lesetischen, den Kopf über einen dicken Wälzer gebeugt. Das Eingangstor ist verriegelt, keiner darf rein, vor zwei Wochen wurde das Schloss ausgewechselt. Die Stadtbücherei von Kiriat Schmona ist zu. Knapp 1,5 Millionen Euro Schulden des Gemeindezentrums bedeuteten das Ende der einzigen Bibliothek der Stadt im Norden Israels. Während sich in anderen Teilen des Landes die Literaten ein Stelldichein gaben.
Gerade ist die Woche zu Ende gegangen, bei der alle Jahre wieder das hebräische Buch gefeiert wird. Jaffa Kaminer ist stattdessen zum Weinen zumute. Nach 17 Jahren Arbeit in der Bücherei der Stadt an der libanesischen Grenze sitzt sie zu Hause und weiß nicht weiter. »Die Kinder fragen mich: ›Warum ist das Tor abgeschlossen, wir wollen doch Bücher ausleihen, wir wollen lesen.‹ Sie können es nicht verstehen. Aber ich habe keine Antworten für sie.«
Gemeindezentrum Die Bibliothek gehört dem Gemeindezentrum, das den Schuldenberg über Jahre hinweg angehäuft hat. Der Insolvenzverwalter ließ die Bibliothek zumachen, um nicht noch mehr rote Zahlen zu schreiben, heißt die offizielle Begründung. Die Vereinigung der israelischen Gemeindezentren veröffentlichte eine Erklärung, in der steht, dass »die Bücherei in Kiriat Schmona in finanzielle Schwierigkeiten geraten ist, sodass ein Gericht anordnete, sie zu schließen. Die Vereinigung wird alles tun, um ein Notprogramm ins Leben zu rufen, mit dessen Hilfe sie wieder eröffnet werden kann.« Nichts als leere Worte für die Bibliotheksleiterin Kaminer. Sie und die sechs weiteren Angestellten der Bibliothek haben seit vier Monaten kein Gehalt bekommen, ihre Beiträge zur Sozialversicherung seien seit 2003 nicht abgeführt worden, sagt sie bitter. Oft hätten sie und ihre Kollegen die Türen trotzdem aufgeschlossen, damit die Menschen lesen können, erzählt sie. »Doch wir müssen ja von irgendetwas leben, wir sind alle Veteranen, die meisten über 40 bis 60 Jahre alt.«
21.200 Menschen leben in der Peripheriestadt, die hauptsächlich dann in den Schlagzeilen ist, wenn aus dem Libanon Raketen auf sie niederregnen, wie zuletzt im Krieg von 2006. Es brachte ihr den traurigen Namen Kiriat Katjuscha ein. Viele Menschen hier sind Einwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion, aus Äthiopien, ein Gemisch der ethnischen Gruppen. Wirtschaftlich ist Kiriat Schmona schwach, »und jetzt geht es auch noch der grundlegendsten Kultur an den Kragen«, so die Bibliothekarin resigniert. 2.700 Menschen sind bei der Bücherei registriert, hinzu kämen viele, die mal reinschauen, ab und zu etwas lesen oder Kinder, die ihre Hausaufgaben erledigen. »Und es wären sicher viele mehr, wenn wir mehr Geld zur Verfügung hätten. Sie ist so wichtig, gerade für unsere Stadt. Wir wollen nicht nur durch Raketen berühmt sein.« 2009 verabschiedete Israel ein Bibliotheks-Reformgesetz, das es allen Menschen im Land ermöglichen sollte zu lesen. Die Ausleihe war von nun an in sämtlichen 1.100 Büchereien von Nord nach Süd kostenlos.
Politik Auch Bürgermeister Nissim Malka ist unglücklich über die Lage in seiner Stadt. »Das Gemeindezentrum müsste auf einen Schlag 300.000 bis 400.000 Schekel bezahlen, dann wäre die Bücherei wieder geöffnet«, erklärt er. »Aber das Geld haben sie nicht, also bleibt sie zu.« Wie lange, wisse man nicht. Vielleicht noch zwei Wochen oder ein ganzes Jahr, alles sei möglich. Man prüfe derzeit Alternativen, ob vielleicht sogar eine neue Bibliothek mit einem anderen Geldgeber errichtet werde. »Auf jeden Fall ist mit der Schließung ganz klar eine rote Linie überschritten worden. Ich bin sehr traurig über die Lage.« Die Sommerferien stehen vor der Tür, viele Kinder, gerade aus sozial schwachen Familien, hätten gern die Bücherei für freie Tage benutzt, waren schon für Lesetage angemeldet.
Nächste Woche soll das bücherlose Kiriat Schmona Thema in Jerusalem sein. Knessetmitglied Eli Aflalo (Kadima) beantragte eine Dringlichkeitssitzung und bat Innenminister Eli Yishai, die Schließung abzuwenden. »Es ist unvorstellbar, dass wir, statt jungen Leuten die Kultur des Lesens näher zu bringen, es ihnen unmöglich machen, an Bücher zu gelangen.«