Der Trubel am Flughafen ist riesig, wenn sie kommen. Winkende Angehörige, händeschüttelnde Offizielle, flatternde Wimpel in blau-weiß. Nicht selten fließen Freudentränen. Die Alija von Juden aus aller Welt ist ein fröhliches Ereignis. Doch was kommt, wenn die Hatikwa verklungen ist, der rote Teppich wieder eingerollt? Nicht selten Ernüchterung, meint Maurice Singer. Oft kämen die Neueinwanderer zu unvorbereitet und mit unrealistischen Erwartungen. Doch das müsse so nicht sein. Der private Alija-Berater hat ein System erfunden, mit dem er die Chancen auf Erfolg abschätzt, bevor die Kisten gepackt werden.
Bevor man ein Haus kaufe, schaue man sich ja auch die Gegend an, argumentiert der Mann, der in seiner 35-jährigen Karriere im Bereich der Alija – unter anderem arbeitete er für die Jewish Agency – nach eigener Aussage um die 15.000 Gespräche mit Olim Chadaschim geführt hat.
»Schlaue Geschäftsleute führen eine Wirtschaftlichkeitsstudie durch, bevor sie eine neue Firma gründen, und Skifahrer erkundigen sich vor einer Reise, ob auch wirklich Schnee liegt.« Der gebürtige Londoner, der schon Jahrzehnte in Raanana lebt, will niemanden davon abhalten, sich hier niederzulassen. Im Gegenteil. Er ist aber überzeugt, dass »eine geplante Alija mit einer Abschätzung der Möglichkeiten ultimativ zu einem stärkeren und glücklicheren Israel führt«.
Die Organisation Nefesch be Nefesch, die Anglo-Einwanderer bei der Alija betreut, gibt als »Erfolgsrate« 98 Prozent an. Lediglich zwei Prozent würden in ihre Ursprungsländer zurückkehren. Singer bezweifelt diese Zahlen. Seiner Erfahrung nach verlassen mindestens die Hälfte aller englischsprachigen Olim Israel nach einer gewissen Weile wieder. »Die wenigsten kündigen ihre Rückkehr an, sie sind dann einfach wieder weg.« Bei seiner Arbeit als Schaliach (Gesandter) in den USA und England habe er viele Leute getroffen, die einst Alija gemacht hatten und jetzt wieder in der alten Heimat lebten.
einschätzung Appraisal heißt Bewertung, Einschätzung. Und genau darum geht es: Mit »Aliyappraisal« hat Singer ei-
nen Fragebogen entwickelt, in dem 20 Fragen zu Berufserfahrung, Gesundheit, Fi-nanzlage und anderem gestellt werden. Nach einigen Telefonaten mit Beratern wie Jobvermittlern oder Wohnungsmarktexperten vergibt er Alija-Interessierten für um die 100 Euro Gebühr eine Note von eins bis zehn. »Bei einer zwei gibt es eine etwa 20-prozentige Chance, dass es hier klappt. Aber natürlich muss im Endeffekt jeder selbst abwägen, ob er den Schritt wagt oder nicht.« Informationen rund um die Immigration gäbe es genug, ist er sicher. »Woran es mangelt, ist ein ehrlicher Rat. Es ist eine Tatsache, dass jemand um die 40 ohne weitere Fremdsprachen wahrscheinlich nicht mehr ausreichend Iwrit lernt, um einen guten Job zu finden. Doch viele meinen, in fünf Monaten könnten sie es fließend. Das ist ein Irrglaube.«
Erfahrung Erez Starck hat es gleich zweimal probiert. »Das erste Mal war es einfach dumm gelaufen. Ich war damals gerade mit dem Studium fertig, wollte raus aus dem Trott. Alija schien mir eine coole Sache zu sein.« Doch dass man vom Partymachen nicht leben kann, musste der heute 35-Jährige schnell feststellen. »Nach zwei Jahren war ich schlicht pleite, hatte mein ganzes Erspartes aufgebraucht, konnte kein Hebräisch. Mir blieb nichts anderes übrig, als zu meinen Eltern zurückzukehren.«
Doch das Israel-Virus hatte den New Yorker gepackt. Sechs Jahre später schleppte er erneut die Koffer zum Flughafen. Mit 28 Jahren wollte der Single eine Frau fürs Leben finden, sesshaft werden. Und zwar am liebsten im Land seiner Träume, Israel. »Mein Zionistenherz ging jeden Tag ein bisschen mehr auf.« Tatsächlich lebte er sich recht schnell ein, lernte fleißig Iwrit und begann, an seiner Karriere zu basteln. Doch genau da hakte es irgendwann. »Ich merkte, dass ich an einem Punkt einfach nicht weiterkam. Es gab unsichtbare Grenzen in der israelischen Geschäftswelt, die ich nicht überschreiten konnte.«
Fünf Jahre hielt er dennoch aus. »Und es waren gute Jahre«, sagt er heute rückblickend, beim Telefonat aus den USA. »Aber über einen bestimmten Punkt kam ich nicht hinaus. Zwar konnte ich mich gut über Wasser halten, aber sparen, vielleicht ein Häuschen kaufen war nicht drin.« Was Starck zudem immer schwerer fiel, war die Akzeptanz der israelischen Mentalität, wie er zögernd zugibt. »Wir Amerikaner sind es gewohnt, im Alltag klare Grenzen einzuhalten. Zum Beispiel würden wir nie jemanden einfach so berühren, etwa auf der Straße oder im Supermarkt. In Israel aber laufen die Leute einfach in dich hinein. Mir haben irgendwann diese Grenzen gefehlt.« Singer bestätigt genau dieses Gefühl bei vielen Olim. »Auch wenn die Leute es nicht immer offen sagen, sind es doch neben finanziellen Problemen oft die Mentalitätsunterschiede, die zum Scheitern der Alija führen.«
Erfolge Israel war schon immer und ist nach wie vor ein Einwanderungsland. Dass es bei vielen funktioniert, zeigen die zahllosen Errungenschaften der Immigranten und Geschichten des Erfolges. Sarah Levine hat es geschafft. Zehn Jahre ist die Amerikanerin im Land und hat nicht die geringste Absicht, es zu verlassen. »Wir waren allerdings gut vorbereitet, sprachen schon vor unserer Ankunft Hebräisch und hatten einen engen Familien- und Freundeskreis. Das hat enorm geholfen.«
Auch Starck kann nicht ausschließen, dass er es noch einmal probieren will. Heute lebt er mit seiner Frau und einem Kind in der Nähe von New York, doch die Sehnsucht nach dem zionistischen Traum bleibt. »Ich bewundere alle, die trotz Schwierigkeiten ausgeharrt haben. Es vergeht wirklich kein Tag, an dem ich Israel nicht vermisse.«