Emilia Aloni ist in ihren Kindergarten zurückgekehrt. Die blonde Sechsjährige wurde von ihrer Betreuerin in den Arm genommen, Freunde umringten und streichelten sie. »Wir haben dich vermisst.« 50 lange Tage fehlte Emilia. Sie war Geisel in Gaza. Gemeinsam mit ihrer Mutter Danielle Aloni kam sie schließlich im Rahmen einer von Katar, Ägypten und den USA vermittelten Übereinkunft zwischen Israel und der Hamas frei. »Sie hat Dinge gesehen, die Kinder in diesem Alter niemals sehen sollten«, sagt ihre Mutter und knetet ihre zitternden Hände. »Niemand sollte so etwas sehen. Es war wie ein Horrorfilm.«
Die beiden leben im Zentrum des Landes. In den Sukkotferien besuchten sie Danielles Schwester Sharon Aloni-Kunio, deren Mann David Kunio und die dreijährigen Zwillingsmädchen im Kibbuz Nir Oz. Emilia, Emma und Yuli sind Cousinen, die nichts mehr lieben, als miteinander zu spielen. Doch das wurde am Morgen des 7. Oktober jäh unterbrochen. Die gesamte Familie verschanzte sich im Sicherheitsraum, als die Terroristen kamen. Doch das Haus wurde in Brand gesteckt. »Sie wollten lieber schnell sterben, als langsam mit den Kindern zu verbrennen oder zu ersticken«, berichtet der Bruder der beiden Frauen, Moran Aloni.
Also kletterte die Familie durch das Fenster. Eine Gruppe von sechs schwer bewaffneten Hamas-Männern habe auf sie gewartet. »Alle wurden nach Gaza verschleppt. Sharon mit David und Yuli, Danielle mit Emilia und Emma.« In Gaza angekommen, habe jemand Emma von Danielles Hand gerissen und sei mit ihr verschwunden. Später wurde die Familie eingesperrt, alle gemeinsam in einem kleinen verriegelten Raum. »Sie dachten, Emma sei tot. Es war die Hölle auf Erden.« Zehn Tage darauf habe Sharon ein Weinen von draußen gehört. »Das ist Emma!«, sagte sie zu ihrem Mann. Doch der tat es ab als »Wahnvorstellung aus tiefer Trauer«. Plötzlich jedoch sei die Tür geöffnet worden, und eine palästinensische Frau habe Emma gebracht. »Sie lebte!«
Dauerhaften psychologischen und physischen Terror beschreiben fast alle der freigelassenen Geiseln, sowohl Erwachsene als auch Jugendliche. Yael Mozer-Glassberg, die als Kinderärztin zusammen mit einem Team aus Medizinern, Psychologen, Ernährungswissenschaftlern und Sozialarbeitern viele der ankommenden Geiseln im Schneider-Kinderkrankenhaus betreut, betont, die zuerst angegebene Beschreibung, dass sich die Zurückgekehrten in einem »mehr oder weniger stabilen Zustand« befänden, sei »nicht richtig«.
Physischer und psychologischer Terror
»Alle haben zehn bis 15 Prozent ihres Körpergewichtes verloren und litten unter Hunger. Manche erhielten morgens eine Tasse Tee mit einem Keks oder einer Dattel. Gegen Abend gab es etwas Reis.« Nachdem ihnen so lange Nahrung und Wasser entzogen worden waren, hätten viele von ihnen Essstörungen entwickelt, so die Ärztin. »Das Personal war darauf vorbereitet zu verhindern, dass vor allem die unterernährten Kinder zu viel essen und dem gefährlichen Refeeding-Syndrom erliegen. Doch anstatt die Speisen zu verschlingen, zupften sie Krümel von einer Scheibe Brot ab und steckten sie sehr, sehr langsam in den Mund.«
Eine Familie habe in 54 Tagen drei Mal duschen dürfen, ein Jugendlicher überhaupt nicht. Die Medizinerin ist schockiert, sie habe oft mit den Tränen kämpfen müssen: »Ich habe in meinem ganzen Leben noch nie so eine furchtbare Hygiene gesehen. Die Rückkehrer hatten alle Läuse, Flohbisse, Ausschläge und entzündete Wunden am ganzen Körper.«
Auch der psychologische Terror sei extrem gewesen. »Sie sagten den Teenagern: ›Ihr bleibt hier mindestens ein Jahr. Oder für immer. Niemand schert sich um euch.‹« Die Terroristen hätten versucht, die Geiseln am Leben zu halten, damit sie mehr wert seien – nichts anderes. »Wir bringen unseren Kindern bei, dass es keine Monster gibt. Doch es gibt sie.«
Itai Pessach, Leiter des Safra-Kinderkrankenhauses am Sheba-Medizinzentrum, ist zusammen mit seinen Kollegen von den Geschichten der Rückkehrer »zutiefst erschüttert«. Er verglich die Zustände, die sie durchleben mussten, mit den Methoden der Nazis im Zweiten Weltkrieg. »Sie haben jede Art von Misshandlung erlebt, die man sich vorstellen kann.« Der Onkel von Yagil (12) und Or Yaakov (17) erzählte, dass die beiden Jungen mit Auspuffrohren an ihren Beinen gebrandmarkt wurden, damit die Terroristen sie wiederfinden würden, sollten sie weglaufen.
»Sie begrapschen die Mädchen in den Tunneln, das wissen alle.«
Vor einigen Tagen kamen die beiden frei. Dabei seien sie wahrscheinlich unter Drogen gesetzt gewesen. Bei einer Sitzung des Knesset-Gesundheitsausschusses sagte Hagar Mizrahi aus dem Gesundheitsministerium, dass die Geiseln vor ihrer Freilassung von der Hamas Beruhigungspillen erhalten hätten. Ziel sei es gewesen, »die Geiseln ruhig und glücklich erscheinen zu lassen, nachdem sie mehr als 50 Tage lang in Gaza körperliche Misshandlungen, Entbehrungen und psychologischen Terror erlitten haben«.
Mehrere freigelassene Geiseln und Angehörige sprachen am Dienstag vor dem Sicherheitskabinett und forderten die sofortige Freilassung ihrer in Gaza verbliebenen Familienmitglieder.
»Die Zeit läuft aus!« Sie hätten Frauen und Männer geschlagen und manchen Männern alle Körperhaare abrasiert, um sie zu erniedrigen. »Sie begrapschen die Mädchen in den Tunneln, das wissen alle«, berichtet eine Frau. Den Entführern sei die Herkunft egal. »Mit uns zusammen war eine beduinische Geisel. Die Hamas macht keinen Unterschied, wir saßen alle im selben Boot.«
In den Hamas-Tunneln in höchster Gefahr
Nili Margalit, die kürzlich nach Hause zurückkehrte, erzählt: »Während der Gefangenschaft war ich mit einer Gruppe überwiegend älterer Menschen zusammen. Als Krankenschwester sorgte ich für sie.« Sie sah den 86-jährigen Aryeh Zalmanovitch neben sich sterben. Ihre Gruppe sei in Tunneln unter unmöglichen Bedingungen festgehalten worden: in der Dunkelheit, ohne viel Sauerstoff, mit Reis oder Pitabrot zweimal am Tag. Einige litten an Herzerkrankungen, Nierenversagen und Parkinson. »Alles, was sie tun, ist, auf harten Pritschen herumzuliegen. Diese Menschen haben nicht mehr viel Zeit. Ich habe mein Bestes getan, um ihnen die Medikamente zu geben, die sie brauchten.«
Margalit sorgt sich, dass es ihnen jetzt, wo sie nicht mehr da sei und sich nicht um sie kümmern könne, noch viel schlechter gehe: »Das Leben aller Geiseln ist dort in den Hamas-Tunneln in höchster Gefahr. Sie haben keine Zeit mehr.«