Nach der Verabschiedung eines Teils der umstrittenen Justizreform in Israel sind dort Tausende Ärztinnen und Ärzte in den Streik getreten. Der israelische Medizinerverband, der fast die komplette ärztliche Belegschaft im Land vertritt, teilte mit, wegen des Streiks würden am Dienstag nur Notfälle behandelt. Die größte Gewerkschaft des Landes, Histadrut, drohte mit einem Generalstreik.
Am Montag hatte das Parlament einem Gesetz zugestimmt, das die Kompetenz des Höchstes Gerichts schwächt. Unterstützer der Reform argumentieren, die Befugnisse nicht gewählter Richterinnen und Richter sollten eingeschränkt werden, damit gewählte Regierungsvertreter mehr Einfluss bekämen. Kritiker argumentierten, mit der jüngsten Maßnahme werde die Gewaltenteilung untergraben.
»Die große Mehrheit der Ärzte weiß, dass sie ihren Eid gegenüber Patienten nicht unter einem Regime erfüllen werden können, das die Rolle der Vernunft nicht akzeptiert«, sagte der Vorsitzende des israelischen Verbands für öffentliche Gesundheit, Hagai Levine. Er bezog sich darauf, dass das Gesetz vom Montag dem Höchsten Gericht die Befugnis entzieht, Entscheidungen der Regierung auf ihre »Angemessenheit« zu überprüfen.
Vier führende Zeitungen in Israel erschienen am Dienstag mit geschwärzter Titelseite. Für die düstere Seitengestaltung hatte eine Gruppe von Hightech-Unternehmen gezahlt. Zu lesen war nur der Satz »Ein schwarzer Tag für die israelische Demokratie«.
Die Abstimmung am Montag war die erste über einen Teil der Justizreform. Der Entwurf wurde einstimmig von der Regierungskoalition aus ultranationalistischen und ultrareligiösen Parteien verabschiedet. Die Opposition verließ unter »Schande«-Rufen die Parlamentskammer.
Allerdings wollen die Gegner den Kampf gegen die Reform nicht aufgeben. Bürgerrechtsgruppen reichten beim Höchsten Gericht Petitionen ein. Darin forderten sie, dass das neue Gesetz gekippt wird. In der Nacht zum Dienstag kam es in Teilen des Landes zu Protesten. Hunderttausende protestierten in Tel Aviv. Sie verbrannten Reifen, zündeten Feuerwerkskörper und schwenkten Nationalflaggen. In Jerusalem setzten berittene Polizisten Wasserwerfer und übel riechendes Spray gegen Demonstranten ein. Knapp 40 Menschen wurden festgenommen.
Videoaufnahmen zeigten, wie Polizisten Demonstranten an den Haaren und am Hals zogen, Menschen blutig schlugen und sie mit Schlagstöcken gewaltsam zurückdrängten. Nach Angaben der Polizei wurden auch mindestens zehn Beamte angegriffen und verletzt.
»Ich glaube, dass sich dieses Land entweder in zwei Länder spalten oder ganz erledigt sein wird«, sagte Jossi Nissimov, Teil des Protestlagers vor dem Parlamentsgebäude in Jerusalem. Die Proteste würden nicht einfach enden, prognostizierte der Präsident des Israel Democracy Institute, einer Jerusalemer Denkfabrik, Yohanan Plesner. »Dies ist der umfassendste und bedeutendste demokratische Aufbruch in der Geschichte des Landes.«
Die Vorsitzende Richterin des Höchsten Gerichts, Esther Hajut, kürzte gemeinsam mit fünf weiteren ranghohen Richtern einen Besuch in Deutschland ab, um auf die Krise im Land zu reagieren, wie das Gericht mitteilte. Die Rückkehr der Juristen wurde für Dienstagabend erwartet. Sie sollten sich mit den Petitionen gegen die Reform befassen. Jeder Versuch des Gerichts, das neues Gesetz aufzuheben, könnte zu einer Verfassungskrise führen und die Richter auf einen beispiellosen Kollisionskurs mit der Regierung führen. ap