Ein Viertel der Israelis hat nicht regelmäßig genug zu essen, bei den Kindern sind es sogar 34 Prozent. Der offizielle Begriff dafür lautet »Nahrungsmittelunsicherheit«. Was bedeutet, dass der Kühlschrank manchmal leer ist oder das Kind in der Schule kein Pausenbrot dabeihat. Der neueste Bericht der Hilfsorganisation Latet (hebräisch für »geben«) zeichnet ein düsteres Bild des Wohlstandes im jüdischen Staat.
Fast 1.1 Million Kinder müssen demzufolge zumindest manchmal Hunger leiden. Das Papier mit dem Titel »Alternative Armut« untersuchte die finanzielle Lage von Familien, die von Latet (»Geben« auf Hebräisch) und anderen wohltätigen Organisationen unterstützt werden. Dem Bericht zufolge hat sich die wirtschaftliche Lage von 65 Prozent dieser Familien im vergangenen Jahr weiter verschlechtert. 80 Prozent hatten nicht genug Geld, um genügend Lebensmittel einzukaufen. Die Hälfte der unterstützten Eltern musste sogar auf Babynahrung verzichten oder weniger als die empfohlene Menge verwenden.
Die schwierige finanzielle Lage dieser Familien hat auch Auswirkungen auf Entscheidungen bezüglich ihrer Gesundheit: 70,8 Prozent berichteten, sie hätten auf den Kauf von Medikamenten oder die Inanspruchnahme notwendiger medizinischer Versorgung verzichtet.
Nach dem Zahlen der Miete bleibt nicht mehr viel übrig
Dazu gehört auch Dorit Levi mit ihren zwei Kindern. Nachdem ihr Mann sie verlassen hatte, ging es finanziell für die drastisch bergab. Sie zog vorerst in die Wohnung ihrer Mutter, weil sie eine eigene nicht mehr zahlen konnte. »Es war wirklich schwer, plötzlich von einer komfortablen Vierzimmer-Wohnung in zwei Zimmer umzuziehen«, erzählt sie im Gespräch mit der Jüdischen Allgemeinen. Mehr als ein Jahr lang schlief sie mit den Kindern in einem Zimmer, ihre Mutter nächtigte auf dem Sofa im Wohnzimmer.
Mittlerweile hat die 33-Jährige, die im Einzelhandel arbeitet, wieder ihr eigenes Dach über dem Kopf, doch nach dem Zahlen der Miete bleibt nicht mehr viel übrig. »Ich muss beim Einkaufen auf jeden Schekel schauen. Und in Israel sind fast alle Lebensmittel sehr teuer. Sehr oft gibt es nur Nudeln oder Brot mit Butter bei uns.« Sie gibt auch zu, dass sie bereits mehrmals bei der Essensausgabe von Wohltätigkeitsorganisationen anstand, um ein Abendessen für ihre Kinder zu bekommen, wenn das Konto am Monatsende völlig leer war. »Und beim Zahnarzt war ich schon Jahre nicht mehr.«
Laut Latets Bericht leben in Israel 2.75 Millionen Menschen unterhalb der Armutsgrenze, das sind 28,7 Prozent der Bevölkerung. Der Bericht warnt, dass Haushalte der unteren Mittelschicht einem echten Risiko ausgesetzt sind, in die Armut abzurutschen. Inmitten dieser wachsenden finanziellen Notlage meldeten mehr als 70 Prozent der gemeinnützigen Gruppen zudem einen Rückgang der Spenden.
»Ich habe nicht viel Hoffnung, dass es bald besser wird. Im Gegenteil. Alles wird nur teurer und teurer.«
»Die israelische Wirtschaft habe in den letzten Jahren zwei große Krisen erlebt: zum einen die Corona-Krise sowie die Ereignisse des 7. Oktobers und der darauffolgende Krieg, in dem wir uns noch befinden. Diese Ereignisse wirkten sich auf Wirtschaftswachstum und Wohlfahrtspolitik aus und hatten damit großen Einfluss auf die wirtschaftliche und soziale Lage des Landes«, schreibt die Nationale Versicherungsanstalt Bituach Leumi.
Darüber hinaus sind die monatlichen Mindestlebenskosten eines israelischen Haushalts im letzten Jahr um 6,9 Prozent gestiegen. Sozialleistungen, etwa das Kindergeld, blieben gleich. Das ist in Israel übrigens viel geringer als in Deutschland und beträgt pro Kind umgerechnet lediglich etwa 44 beziehungsweise 55 Euro, je nachdem, wie viele Kinder die Familie hat.
Auch die zweifache Mutter Dorit Levi merkt an ihrem Geldbeutel, dass vieles mehr kostet. »Ich habe nicht viel Hoffnung, dass es bald besser wird. Im Gegenteil. Alles wird nur teurer und teurer.«
Ein in der Latet-Studie verwendeter Parameter ist der »mehrdimensionale Armutsindex«, der anhand mehrerer Faktoren bestimmt, ob ein Haushalt in bitterer Armut, Armut oder nicht in Armut lebt. Die im Bericht veröffentlichten Daten zeigen, dass 22,3 Prozent der Haushalte des Landes in mehreren Bereichen unter Knappheit leiden und als »arm« gelten.
Viele Menschen leiden unter »Energiemangel«
Nahezu 80 Prozent der Israelis, die Unterstützung von Hilfsorganisationen erhalten, sind zudem verschuldet. Von denen leiden dadurch fast 85 Prozent unter einem sogenannten »Energiemangel«, können ihre Häuser also im Sommer nicht kühlen und im Winter nicht oder nur unregelmäßig heizen. 22 Prozent von ihnen wurde im vergangenen Jahr sogar zeitweise aufgrund unbezahlter Rechnungen der Strom abgestellt.
Vladimir S. kennt das. Er lebt mit seiner zweiten Frau und ihren beiden Teenagetöchtern in Bat Yam im Zentrum des Landes. Auch er ist durch Scheidung vom unteren Mittelstand und, wie er sagt, »einem recht angenehmen Leben« in die Armut abgerutscht. Heute arbeitet er als Handwerker in einem Hotel, seine Frau als Reinigungskraft. Neben den horrenden Kosten des teuren täglichen Lebens in Israel muss er seine Schulden, hauptsächlich Kosten, die durch die Scheidung entstanden, abbezahlen.
Das Ergebnis ist eine ständige Unsicherheit, dass es irgendwann finanziell einfach nicht mehr weitergeht. »Zwar müssen wir extrem auf die Ausgaben achten, auch beim Essen, aber hungrig ins Bett sind wir noch nicht gegangen«, sagt S. Doch die Sorge, dass es noch schlimmer kommen könnte, lässt ihn nachts kaum mehr ruhig schlafen, gibt er zu und schüttelt den Kopf. »Meine Frau und ich sind beide nicht mehr die Jüngsten, was ist, wenn jemand dauerhaft krank wird? Was ist, wenn jemand seinen Job verliert? Das mag ich mir überhaupt nicht ausmalen. Aber daran denke ich ständig…«