Viele Israelis drücken in diesen Tagen ihre Meinung mit den Füßen aus. Sie gehen auf die Straßen und demonstrieren – für einen Geiseldeal und auch dagegen.
Nach 15 Monaten des Krieges gegen die Hamas sind noch immer 98 Geiseln in der Gewalt der Terrororganisation. Bereits mehrere Anläufe für eine Vereinbarung waren gescheitert. Doch in den vergangenen Tagen hatte sich abgezeichnet, dass es dieses Mal einen Durchbruch geben könnte. Am Mittwochabend schließlich wurde bestätigt, dass das Abkommen für einen Waffenstillstand und die Befreiung der Geiseln aus Gaza tatsächlich zustande kommen würde.
Das Forum für die Familien von Geiseln und Vermissten schrieb in den sozialen Netzwerken: »Im Hinblick auf die Berichte über ein Abkommen heißen wir die Rückkehr jeder Geisel willkommen. Denn jede einzelne steht für die Hoffnung und die Erleichterung nicht nur für ihre Familie, sondern für unsere ganze Gemeinschaft.«
Weiter schrieb das Forum: »Wir rufen dringend dazu auf, ein Rahmenwerk zu schaffen, dass jede Person zurückbringt, die in Geiselhaft ist. Nach mehr als 460 Tagen erleiden unsere Liebsten noch immer Unfassbares. Obwohl wir jede Rückkehr feiern, ist es unsere Mission, dass alle Verschleppten nach Hause kommen.« Für die 30 Geiseln, die in der Geiselhaft ermordet wurden, käme das Abkommen tragischerweise zu spät. »Wir werden nicht ruhen, bis auch die letzte Geisel frei ist.«
Viele forderten auf ihren Schildern einen Deal
Auf dem Platz der Geiseln in Tel Aviv gesellten sich am Dienstag und Mittwochabend Tausende Israelis zu den Angehörigen und drückten ihre Solidarität aus. Viele hielten Schilder in die Höhe, mit denen sie einen Deal forderten. Eden Meiri war spontan auf den Platz gekommen, um ihre Zustimmung dafür hervorzuheben. Auch sie hatte ein Plakat dabei. »Iska – kulam achschwav« (Deal für alle – jetzt) stand darauf. »Wir müssen heute an der Seite der Familien stehen. Aber ebenso wichtig ist es, klarzumachen, dass wirklich alle Geiseln freikommen.«
Um seine Solidarität mit den Angehörigen zu zeigen, war auch Tomer Nathan gekommen. Nach eigenen Worten »hofft er inständig, dass die Geiseln freikommen und der Krieg endet«, doch überzeugt ist er nicht. »Gerade hat der Emir von Katar gesagt, dass die Umsetzung am Sonntag beginnt. Das gibt der Hamas und der israelischen Regierung noch vier Tage Zeit, ihre Meinung zu ändern. Das macht mir Angst. Leider haben wir schon viel zu oft gesehen, dass es schief geht.« Seiner Meinung nach brauche Israel dringend einen Deal »um endlich wieder das Licht am Ende des Tunnels zu sehen und als Gesellschaft zu heilen.«
»Die beiden Mädchen gingen weiter, und ich blieb zurück. In der Hölle.«
Die ehemalige Geisel Moran Stella Yanai berichtete am Abend von den letzten Tagen während ihrer Gefangenschaft. »Am 49. Tag brachten uns zum Übergabepunkt, wo die Hamas die Geiseln dem Roten Kreuz übergab. Zwei Mädchen waren mit mir zusammen.« Doch genau dort, einen Schritt von der Freiheit entfernt, hätten die Terroristen sie zurückgezogen. »Die beiden Mädchen gingen weiter, und ich blieb zurück. In der Hölle.«
»Diese Nacht war die längste meines Lebens«, so die Israelin. »Ich stellte mir vor, wie sie die Welt da draußen berührten – eine köstliche Frucht aßen, klares Wasser tranken, taten, was sie wollten. Diese Gedanken waren mein Licht in der Dunkelheit.«
»Aber wie viel Hoffnung kann ein Mensch nach 466 Tagen haben?«, fragte sie die Anwesenden. »Keiner von ihnen darf dort verbleiben. Dies ist keine Frage von Strategie oder Ideologie. Es geht um Menschlichkeit und darum, dass jeder Einzelne zurückkehren muss.« Die befreite Geisel appellierte auch an die internationale Gemeinschaft, bei der Heimholung der Geiseln zu helfen. »Dies sind unsere Kinder, Eltern, Brüder und Schwestern, Menschen mit Träumen, Hoffnungen und Angehörigen, die sich nach ihrer Rückkehr sehnen«, sagte sie. »Beweisen Sie, dass Mitgefühl über Verzweiflung siegen kann.«
In der ersten Phase sollen 33 Geiseln freigelassen werden
In der ersten, 42-tägigen Phase sollen 33 Geiseln freigelassen werden, im Austausch für einen Teilabzug Israels und die Freilassung vieler Hunderter palästinensischer Sicherheitsgefangener, darunter mehr als 150 Terroristen, die wegen Mordes an Israelis lange Haftstrafen verbüßen. Der dreistufige Deal soll die Freilassung aller 98 Geiseln, lebend und tot, sowie das Ende des Krieges und den Wiederaufbau Gazas mit Sicherheitsmechanismen für Israel erwirken.
Unterdessen marschierten in Jerusalem Hunderte Demonstranten zum Büro des Premierministers, um gegen Geiseldeal zu protestieren. Später am Abend blockierten sie eine Straßenkreuzung im Zentrum Jerusalems. »Ein freigelassener Terrorist ist der Mörder von morgen«, skandierten die Demonstranten. Der Protest wurde vom Gevura-Forum organisiert, einer rechtsgerichteten Gruppe von Familien getöteter Soldaten. Viele der Mitglieder sind Unterstützer der ultranationalistischen Partei Religiöser Zionismus, deren Vorsitzender Finanzminister Bezalel Smotrich ist.
Die Familien und ihre Unterstützer forderten Premierminister Benjamin Netanjahu auf, den Deal rückgängig zu machen und die derzeitige Militäroffensive gegen die Hamas in Gaza fortzusetzen. »Wir fordern, diesem Deal nicht nachzugeben. Er wird Tausende von Terroristen mit Blut an ihren Händen freilassen«, rief einer der Organisatoren. »Wir werden nicht vergessen, wir werden nicht vergeben. Sie haben kein Mandat, sich der Hamas zu ergeben.«
»Hat sich etwas geändert, sodass Sie begonnen haben, mit den Kindern der Dunkelheit zu sprechen?«
Amitai Wiesel, dessen Bruder Elkanah in Gaza gefallen war, wandte sich direkt an Netanjahu: »Ich erinnere mich, an eine Ihrer ersten Pressekonferenzen zu Beginn des Krieges. Sie nannten diesen Krieg einen ›Krieg zwischen den Kindern des Lichts und den Kindern der Dunkelheit‹. Ich frage Sie heute, was ist passiert? Hat sich etwas geändert, sodass Sie begonnen haben, mit den Kindern der Dunkelheit zu sprechen?«
Ebenfalls gegen einen Deal sind die Geiselangehörigen, die sich im Tikva-Forum organisiert haben. Sie verlangen, einen »vollständigen Sieg« gegen die Hamas. Viele von ihnen unterstützten die Besiedlung des Gazastreifens durch jüdische Gruppen, und vertreten ähnliche Ansichten wie die rechtsextremen Politiker in der Regierungskoalition, die das Abkommen ebenfalls ablehnen. Dazu gehören neben Smotrich auch der Minister für nationale Sicherheit, Itamar Ben Gvir. Beide haben sich mehrfach für die Besiedlung Gazas ausgesprochen.
Zur selben Zeit sprach Gania Zohar, die Tante der ermordeten Geisel Omer Neutra auf dem Platz der Geiseln und forderte die Menschen auf, gemeinsam das jüdische Gebet »Schema Yisrael« zu rezitieren. Am Ende stimmten alle in ein »Amen« ein, das durch den Abend hallte. »Damit senden wir den Unterhändlern Kraft«, rief sie den Menschen zu. »Damit sie alle Geiseln nach Hause holen.«