Israel will seine angekündigte Bodenoffensive auf die palästinensische Terrororganisation in der Stadt Rafah im Süden des Gazastreifens einem Medienbericht zufolge in Etappen durchführen. Wie das »Wall Street Journal« unter Berufung auf ägyptische Beamte und ehemalige israelische Offiziere berichtete, änderte Israel auf Druck der USA und anderer Länder seine anfänglichen Pläne für einen großangelegten Angriff auf die derzeit mit Hunderttausenden palästinensischen Binnenflüchtlingen überfüllte Stadt an der abgeriegelten Grenze zu Ägypten.
Durch ein stattdessen schrittweises Vorgehen solle die Zahl ziviler Opfer begrenzt werden, hieß es. Mit ihrem Krieg hat die Hamas auch ihre eigene Bevölkerung in eine existenziell schwierige Lage gebracht.
Die israelischen Streitkräfte (IDF) äußerten sich nicht zu ihren Einsatzplänen. Ministerpräsident Benjamin Netanjahu hatte allerdings vor wenigen Tagen »weitere schmerzhafte Schläge« gegen die Hamas angekündigt. »Und dies wird in Kürze geschehen«, sagte er.
Humanitäre Katastrophe
Die UN-Koordinatorin für humanitäre Hilfe in Gaza, Sigrid Kaag, warnte vor einem Angriff auf Rafah. »Eine solche Aktion würde eine anhaltende humanitäre Katastrophe verschlimmern, mit Folgen für die Menschen, die bereits vertrieben sind und große Nöte und Leid ertragen müssen«, sagte die Niederländerin vor dem UN-Sicherheitsrat in New York. »Die Fähigkeit der Vereinten Nationen, Hilfe zu liefern, würde eingeschränkt.«
Israel geht es darum, die Hamas zu zerschlagen, um sicherzustellen, dass die Terrorgruppe keine weiteren Massaker anrichten kann. Die Terroristen kündigten bereits weitere Attacken im Stil des 7. Oktober an. Es geht um die Sicherheit der israelischen Bevölkerung und um eine Befreiung der 133 Geiseln, die weiterhin von der Hamas festgehalten werden.
Unterdessen kam es in Israel nach der Veröffentlichung eines Geisel-Videos durch die Hamas am Mittwochabend zu Protesten. Hunderte Menschen versammelten sich in Jerusalem in der Nähe der Residenz von Regierungschef Netanjahu, um für die Freilassung der in Gaza festgehaltenen Geiseln zu demonstrieren, wie mehrere Medien meldeten. Allerdings weigert sich die Hamas, die Geiseln gehenzulassen. Bei den Protesten in Israel kam es zu Zusammenstößen mit der Polizei.
Geisel-Video veröffentlicht
Laut den Beamten legten Demonstranten Feuer, zündeten Feuerwerkskörper, warfen Mülltonnen um und blockierten den Verkehr. Vier Menschen seien festgenommen worden, hieß es. In dem zuvor von der Hamas veröffentlichten Video ist ein 24 Jahre alter Mann zu sehen, der der israelischen Regierung schwere Vorwürfe macht.
Sie habe die israelischen Bürger nicht beschützt und im Stich gelassen, sagt der Mann. Die wie er beim Massaker der Hamas am 7. Oktober aus Israel in den Gazastreifen entführten Menschen befänden sich in einer »unterirdischen Hölle« ohne Nahrung, Wasser und medizinische Behandlung. Sein Unterarm wurde israelischen Medien zufolge abgerissen, als die Terroristen Granaten in sein Versteck warfen.
Berichten zufolge ist er israelischer und amerikanischer Staatsbürger. Unter welchen Umständen das Video entstand und ob der Mann unter Druck und Drohungen sprach, war zunächst unklar. Die Video-Aufnahme war außerdem nicht datiert, das Hamas-Massaker war am Mittwoch 201 Tage her.
Vorbereitung der Offensive
Israel war bis vor wenigen Wochen davon ausgegangen, dass knapp 100 der rund 130 verbliebenen Geiseln noch am Leben sind. Inzwischen wird aber befürchtet, dass deutlich mehr von ihnen tot sein könnten.
Israel treibt derweil laut Medienberichten seine Pläne für eine Offensive in der Stadt Rafah im Süden Gazas voran, um dort die letzten verbliebenen Bataillone der Hamas zu zerschlagen. Zudem werden in Hamas-Tunneln unter Rafah Geiseln vermutet.
Verbündete wie die USA haben aus Sorge um die etwa 1,5 Millionen Menschen, die in der Stadt Schutz vor den Kämpfen im übrigen Gazastreifen suchen, immer wieder eindringlich vor einer großangelegten Bodenoffensive in Rafah gewarnt. Die Stadt gilt als die einzige in dem Küstenstreifen, die noch vergleichsweise intakt ist.
Besprechung in Kairo
In den vergangenen Jahren hatten von der Hamas begonnene Kriege mehrfach zu Zerstörung in Gaza geführt – auch da die Terroristen ihre eigene Bevölkerung als lebende Schutzschilde missbrauchen. So ist die Situation im aktuellen Krieg auch.
Nach Informationen des »Wall Street Journals« plant Israels Armee nun, vor jeweiligen Angriffen die betroffenen Stadtteile zu evakuieren, bevor das Militär zu neuen Gebieten übergeht. Die Einsätze würden wahrscheinlich auch gezielter als frühere Angriffe in Gaza erfolgen. Zudem sei eine Koordinierung mit Ägypten vorgesehen, um die Grenze zwischen Ägypten und Gaza zu sichern, hieß es weiter.
Das Nachrichtenportal »Axios« berichtete unter Berufung auf israelische Beamte, ranghohe israelische Geheimdienst- und Militärbeamte seien am Mittwoch in Kairo unter anderem mit dem ägyptischen Geheimdienstchef zusammengetroffen, um Israels geplanten Einsatz seiner Armee in Rafah zu besprechen.
Massengrab: Israel nicht verantwortlich
Staatsinformationsdiensts SIS, Diaa Raschwan, noch erklärt, man führe keine Gespräche mit Israel über dessen mögliche Militäroffensive in Rafah. Ägypten lehne Pläne für solch eine Offensive entschieden ab und habe diese Position auch mehrfach klargestellt. Eine Offensive in Rafah würde zu »Massakern, massivem Verlust von Menschenleben und umfassender Zerstörung führen«, sagte Raschwan.
Ägypten hat nach einem früheren Bericht des »Wall Street Journal« angeblich sogar damit gedroht, seinen Friedensvertrag mit Israel aufzukündigen, sollte es zu einem Ansturm von Palästinensern aus dem Gazastreifen über die Grenze kommen.
Für Wirbel sorgen unterdessen weiter Berichte über ein nahe des Nasser-Krankenhauses in der lange umkämpften Stadt Chan Junis entdecktes Massengrab, in dem der von den Hamas-Terroristen kontrollierte »Zivilschutz« nach eigenen Angaben inzwischen 324 Leichen freigelegt hat. Es sei aber entgegen der Behauptung der Hamas nicht von der israelischen Armee angelegt worden, berichtete die »Jerusalem Post« am Mittwochabend unter Berufung auf Analysen von Bildmaterial.
Satellitenbilder und Filmmaterial
Das Massengrab habe bereits existiert, bevor israelische Soldaten dort am Boden gegen die Hamas vorgegangen seien. Dies habe die Auswertung von Satellitenbildern und Filmmaterial durch namentlich nicht genannte unabhängige Analysten ergeben, hieß es.
Die von der Hamas und arabischen Medien verbreiteten Behauptungen, die israelischen Soldaten hätten die Leichen von Palästinensern vergraben, um sie »zu verstecken«, seien falsch, schrieb die Zeitung. dpa/ja