Erschöpfung und Erleichterung stehen dem neuen, aber altbekannten israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu während des Telefonats gleichermaßen ins Gesicht geschrieben. Nur wenige Minuten vor Mitternacht informiert der 73-Jährige den Präsidenten Isaac Herzog in der Nacht zum Donnerstag, dass er eine Koalition schmieden konnte. Diese werde sich »um alle Bürger Israels kümmern«, sagt er, wohl mit Blick auf Sorgen vor einer weiteren Spaltung des Landes.
Weitere Hürden für Netanjahus Koalition vor der Vereidigung
Die intensiven Verhandlungen mit seinen künftigen Partnern liefen seit der Wahl vor mehr als sieben Wochen - und sind dennoch nicht vollständig abgeschlossen. Bis zur Vereidigung der Regierung, die bis zum 2. Januar über die Bühne gehen muss, sollen noch einige Koalitionsverträge unterzeichnet werden.
Neben Netanjahus rechtskonservativer Likud-Partei sollen künftig das Religiös-Zionistische Bündnis, dem auch rechtsextreme Kräfte angehören, sowie zwei strengreligiöse Parteien die Geschicke Israels - und auch der Palästinenser - bestimmen.
»Dies ist die am weitesten rechts stehende und religiöseste Regierung, die Israel jemals hatte«, sagt der Juraprofessor Eli Salzberger vom Minerva-Zentrum an der Universität Haifa.
Geplante Justizreform schürt Sorgen
Netanjahus Extrembündnis will tiefgreifende Reformen durchsetzen, darunter auch eine gezielte Schwächung des Justizsystems, das viele rechtsorientierte Israelis als zu mächtig ansehen.
Salzberger spricht von einer bevorstehenden »Revolution«. Er sieht die von der neuen Regierung angestrebten Reformen als »Bedrohung für die Rechtsstaatlichkeit und Demokratie in Israel«.
Die angestrebten Änderungen betreffen beispielsweise die Ernennung von Richtern. Die Zusammensetzung des zuständigen Gremiums soll so verändert werden, dass Politiker künftig eine Mehrheit bilden. Außerdem soll das Rentenalter von Richtern von 70 auf 65 Jahre gesenkt werden. Ziel sei es, »die liberalen Richter loszuwerden«, sagt Salzberger. Sie sollten von Richtern ersetzt werden, die der nationalistischen Agenda der neuen Regierung entsprechen.
Für Unruhe sorgt auch die Absicht der Regierung, eine sogenannte Überwindungsklausel durchzusetzen. Eine Mehrheit im Parlament könnte damit ein Gesetz verabschieden, auch wenn es nach Ansicht des Höchsten Gerichts gegen das Grundgesetz verstößt. Vor der Vereidigung der neuen Regierung soll außerdem ein Gesetz so angepasst werden, dass der Vorsitzende der strengreligiösen Schas-Partei, Arie Deri, trotz Verurteilung wegen Steuervergehen Innenminister werden kann.
Langzeit-Regierungschef gibt sich pragmatisch und moderat
Angesichts von Sorgen auch im Ausland über den weiteren Rechtsruck in Israel betont Netanjahu, er sei es, der den Kurs der Regierung vorgeben werde. Der gewiefte Politiker hat in der Vergangenheit oft Pragmatismus bewiesen, wenn es darum ging, Krisen zu bewältigen. Kein Regierungschef war bisher länger im Amt als Netanjahu.
Mit dem klaren Sieg seines Lagers bei der Wahl am 1. November endete zumindest vorerst eine politische Dauerkrise, die Israel seit 2019 schon fünf Parlamentswahlen beschert hat.
Rechtsextreme Politiker auf einflussreichen Ministerposten
Einige Ministerposten sollen mit umstrittenen Politikern besetzt werden. Der in der Vergangenheit wegen Unterstützung einer terroristischen Organisation verurteilte Itamar Ben-Gvir, bekannt als politischer Brandstifter, wird Minister für Nationale Sicherheit. Er soll mehr Einfluss auf die Polizei erhalten und für die im Westjordanland aktive Grenzpolizei zuständig sein. Netanjahu betonte in einem US-Rundfunkinterview, Ben-Gvirs Positionen seien inzwischen gemäßigter und mit der Macht komme auch Verantwortung.
Ben-Gvirs Bündnispartner Bezalel Smotrich soll Finanzminister werden und darüber hinaus für die Zivilverwaltung in den besetzten Palästinensergebieten zuständig sein. Dies will er unter anderem zur Legalisierung »wilder«, auch von Israel nicht anerkannter Siedlungen im Westjordanland nutzen.
Mit den neuen Befugnissen würden Ben-Gvir und Smotrich »de facto Herrscher mit direkter Kontrolle über die besetzten Gebiete« werden, erklärt Juraprofessor Alexandre Kedar von der Universität Haifa.
Druck auf Israel von außen könnte steigen
Israels Höchstes Gericht habe bisher einige der systembedingten Nachteile der Palästinenser ausgleichen können, obwohl es auch zur Legalisierung der Besatzung gedient habe, erklärt Kedar. Nach einer Entmachtung des Höchsten Gerichts werde dieses »nicht mehr in der Lage sein, sich in Vorgänge in den besetzten Gebieten einzumischen«.
»Wir werden eine Gruppe haben, israelische Siedler, die bei der Parlamentswahl abstimmen können, und eine zweite Gruppe, die Einwohner ohne Rechte sind«, warnt der Rechtswissenschaftler. Es werde für Europa und die USA künftig »immer schwerer werden, dies zu ignorieren«. »Vielleicht wird es aber angesichts einer Lage, die viel schlimmer ist als etwa in Polen oder Ungarn, auch mehr Einmischung von außen geben.«