Während die Vermittler im Gaza-Krieg einen neuen Vorstoß für eine Waffenruhe unternehmen, befeuert die israelische Armee nach einem Teilabzug die Spekulationen um einen möglichen Angriff auf Terroristen in Rafah. Die Truppen hätten nach Zerschlagung der militärischen Strukturen der islamistischen Hamas in Chan Junis die lange umkämpfte Stadt verlassen, »um sich auf ihre künftigen Missionen vorzubereiten, einschließlich in Rafah«, sagte Verteidigungsminister Joav Galant am Sonntag.
Dies könnte auf eine bevorstehende Einigung bei den neuen Verhandlungen in Kairo über eine Waffenruhe und Freilassung von Geiseln hindeuten, schrieb die israelische Zeitung »Haaretz«. In dem Fall werde eine Offensive auf Rafah für die Dauer der Feuerpause ausbleiben. Doch selbst wenn es keine Einigung geben sollte, werde es mit ziemlicher Sicherheit noch eine Weile dauern, bis Israels Armee in Rafah vorgehe, schrieb die Zeitung.
Genau sechs Monate nach Beginn des Gaza-Krieges hatte Israel am Sonntag überraschend einen Teil seiner Truppen aus Chan Junis abgezogen. Kurz darauf machten sich die ersten Palästinenser laut israelischen Medienberichten auf, dorthin zurückzukehren. Nach monatelangem Bombardement und schweren Kämpfen zwischen den IDF und der palästinensischen Terrororganisation Hamas liegt ein Großteil des Gebiets in Trümmern.
Früher oder später
Israels Generalstabschef Herzi Halevi machte derweil deutlich, dass ein Ende des Krieges noch lange nicht in Sicht ist. »Der Krieg in Gaza dauert an, und wir sind weit davon entfernt, aufzuhören«, sagte Halevi am Sonntag. Ranghohe Funktionäre der Hamas hielten sich in dem abgeriegelten Küstengebiet weiter versteckt. »Wir werden sie früher oder später erreichen.«
»Wir werden keine Hamas-Brigaden aktiv lassen - in keinem Teil des Gazastreifens«, sagte Halevi. Die Zeit werde kommen, in der die Hamas nicht länger das Küstengebiet kontrolliere und die Sicherheit Israels bedrohe, sagte auch Verteidigungsminister Galant. Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu hat immer wieder erklärt, dass hierzu ein Einmarsch in Rafah und die Zerschlagung der dort verbliebenen letzten Bataillone der Hamas unerlässlich sei.
Die USA und Deutschland haben Israel wiederholt vor einer großangelegten Bodenoffensive in Rafah gewarnt. US-Präsident Joe Biden hatte Netanjahu klargemacht, dass ein Einmarsch dort ohne vorherige Evakuierung der Zivilisten eine »rote Linie« für ihn wäre. Israels hatte eine Evakuierung vor einem Einmarsch jedoch wiederholt angekündigt. Die Armee will für die Menschen aus Rafah weiter nördlich »humanitäre Inseln« zu schaffen.
Politische Erholung
Vorbereitungen dafür gebe es aber noch gar nicht, schrieb »Haaretz«. Möglich sei denn auch, dass keine dieser Entwicklungen über die kommenden Wochen oder Monate hinweg eintrete. Dies würde nur einem dienen: Netanjahu, schrieb die israelische Zeitung weiter.
Nach Einschätzung amerikanischer und israelischer Beamter glaube Israels zunehmend unter Druck stehender Ministerpräsident, dass ein sich in die Länge ziehender Krieg im Gazastreifen seine Chancen erhöhe, an der Macht zu bleiben, berichtete auch das Nachrichtenportal »Axios«.
In einer Kabinettssitzung sagte Netanjahu am Sonntag einmal mehr, Israel sei »einen Schritt vom kompletten Sieg entfernt«. Solange der Krieg andauere, seien Neuwahlen, die Netanjahu um sein Amt bringen könnten, weniger wahrscheinlich, hieß es in dem »Axios«-Bericht. »Und je mehr Zeit vergeht, desto mehr Chancen hat er, sich politisch zu erholen.«
Geforderter Rücktritt
Am Sonntagabend gingen in Jerusalem nach Angaben der Organisatoren erneut rund 5. 000 Menschen auf die Straße und forderten in Sprechchören Netanjahu und seine Regierung auf, die im Gazastreifen weiter festgehaltenen Geiseln nach Hause zu bringen. Die Hamas weigert sich allerdings, sie freizulassen.
Auch am Vortag hatten Zehntausende Menschen in Tel Aviv und anderen israelischen Städten gegen Netanjahus Regierung demonstriert. Kritiker werfen ihm vor, den Schutz der Gaza-Grenze vernachlässigt zu haben und die Interessen des Landes seinem politischen Überleben unterzuordnen. Demonstranten forderten wiederholt seinen Rücktritt.
Unterdessen sind am Sonntag in Kairo die indirekten Verhandlungen über eine Waffenruhe und die Freilassung von Geiseln, die von der Hamas festgehalten werden, wieder aufgenommen worden. Zu diesem Zweck reisten CIA-Direktor William Burns und eine Delegation der Hamas in die ägyptische Hauptstadt.
Erhoffter Durchbruch
Am Sonntagabend traf auch der katarische Ministerpräsident und Außenminister Mohammed bin Abdulrahman Al Thani ein. Der Chef des israelischen Auslandsgeheimdienstes Mossad, David Barnea, soll israelischen Berichten nach ebenfalls teilnehmen. Die USA als Israels wichtigster Verbündeter wollen einen Durchbruch in den seit Wochen festgefahren Verhandlungen herbeiführen.
Da Israel und die Hamas nicht direkt miteinander reden, treten die USA, Katar und Ägypten als Vermittler auf. Im Laufe einer einwöchigen Feuerpause Ende November vergangenen Jahres ließ die Hamas 105 Geiseln im Austausch gegen 240 palästinensische Häftlinge frei. Knapp 100 der Geiseln, die nach dem Terrorüberfall der Hamas vom 7. Oktober nach Gaza verschleppt wurden, dürften nach israelischen Schätzungen noch am Leben sein.
Neue Drohungen
Derweil wurden am Sonntag neue Drohungen aus dem Iran gegen Israel laut. »Die Widerstandsfront ist bereit für alle möglichen Vergeltungsszenarien und keine israelische Botschaft weltweit ist sicher davor«, sagte General Jajhja Rahim-Safawi am Sonntag. Er ist ein Berater des obersten iranischen Führers, Ajatollah Ali Chamenei.
Vergangene Woche waren unter anderem zwei iranische Brigadegeneräle bei einem Raketenangriff auf das iranische Botschaftsgelände in Damaskus getötet worden. Irans Staatsspitze macht Israel für die Attacke verantwortlich und drohte mit Vergeltung. Seitdem wird ein Angriff auf Ziele Israels oder der USA befürchtet. Beide Länder sind daher in höchster Alarmbereitschaft.
Der Iran überzieht seit Jahren Teile des Nahen Ostens mit Terror. Das Regime in Teheran finanziert unter anderem de Hamas, die Hisbollah und die Huthi. Drohungen gegen Israel sprachen iranische Führer bereits vor dem 7. Oktober regelmäßig aus. dpa/ja