Rund einen Monat nach dem Massaker des palästinensischen Terrors an israelischen Zivilisten hat die im Gazastreifen herrschende Hamas nach israelischer Darstellung die Kontrolle über den Norden des Küstenstreifens verloren.
Israels Regierungschef Benjamin Netanjahu sagte, Hamas-Kämpfer hätten »keinen sicheren Ort mehr, um sich zu verstecken«. Auch das Militär hatte zuvor mitgeteilt, die Hamas kontrolliere den Norden nicht mehr. Ob das auch für das weit verzweigte Tunnelsystem galt, war unklar.
Zur Zukunft des Küstenstreifens nach einem Ende der Kämpfe äußerte sich Netanjahu ausweichend. Eine Verwaltung durch die Palästinensische Autonomiebehörde aus dem Westjordanland schloss er jedoch aus.
Die Lage in den Krankenhäusern vor allem im heftig umkämpften nördlichen Teil wurde unterdessen immer dramatischer. Israel vermutet unter dem Schifa-Krankenhaus, dem größten Klinikkomplex des Gazastreifens, eine Kommandozentrale der Hamas.
Nach Angaben eines im Schifa-Krankenhaus arbeitenden Arztes wurde weiter heftig in unmittelbarer Nähe des Spitals gekämpft. »Wir können kaum die Patienten im Krankenhaus behandeln und sind mitten im Kriegsgebiet«, sagte der Mediziner Ahmed Muchallalati am Sonntag dem arabischen Nachrichtensender Al-Dschasira.
»Es gibt laufend Luftangriffe, und Drohnen kreisen in der Gegend des Krankenhauses.« Die medizinische Versorgung von Patienten sei mangels Strom, Wasser und Medikamenten fast zum Erliegen gekommen. Mehrere Patienten seien deshalb bereits gestorben. Die Angaben ließen sich nicht überprüfen.
Israels Armee dementierte Vorwürfe über Angriffe auf Krankenhäuser entschieden und kündigte Hilfe beim Transport von Baby-Patienten in sichere Krankenhäuser an.
Neues Zeitfenster zur Flucht
Israels Militär hatte den Zivilisten im Norden des Gazastreifens für Sonntag ein neues Zeitfenster für die Flucht in den Süden genannt. Zudem solle ein Durchgang zwischen dem Schifa-Krankenhaus und einer Verbindungsstraße in Richtung Süden geschaffen werden, teilte die Armee auf der Plattform X mit. Der Fluchtkorridor war demnach zwischen 09.00 Uhr und 16.00 Uhr Ortszeit (08.00 Uhr bis 15.00 Uhr MEZ) geöffnet. Augenzeugenberichten zufolge flohen Tausende meist zu Fuß nach Süden.
Von Hamas-Chef Jihia al-Sinwar »bis zum letzten Terroristen« seien alle todgeweiht, sagte Netanjahu. Die Armee habe bereits Tausende Terroristen getötet, darunter auch »Kommandeure, die das schreckliche Massaker am 7. Oktober angeführt haben«.
Netanjahu betonte, es werde keine Waffenruhe ohne Freilassung der 239 Geiseln der Hamas geben. Zu den diplomatischen Bemühungen sagte Netanjahu, man werde die Familien informieren, sobald es etwas Konkretes gebe. Bis dahin sei es besser, zu schweigen.
»Etwas anderes« in Gaza
Netanjahu erklärte erneut, Israel wolle nach einem Sieg über die Hamas die Sicherheitskontrolle im Gazastreifen behalten. Der Küstenstreifen müsse entmilitarisiert werden. Zugleich schloss er aus, dass die gemäßigtere Palästinensische Autonomiebehörde (PA) aus dem Westjordanland wieder die Kontrolle auch über den Gazastreifen übernehmen könnte. Von dort war die von Palästinenserpräsident Mahmud Abbas geleitete Organisation 2007 von der Hamas vertrieben worden.
Netanjahu betonte, Israel werde im Gazastreifen keine Verwaltung akzeptieren, »die ihre Kinder dazu erzieht, Israel zu hassen, Israelis zu töten oder Israel zu eliminieren«. Es müsse »etwas anderes« sein.
Auf anhaltende Angriffe aus dem benachbarten Libanon reagierte Israel mit einer deutlichen Warnung an die dort ansässige Schiitenmiliz Hisbollah. »Macht nicht den Fehler, in den Krieg einzusteigen. Das wäre der Fehler eures Lebens«, sagte Ministerpräsident Netanjahu am Samstagabend an die Terrororganisation Hisbollah gerichtet, die wie die Hamas hauptsächlich vom Iran finanziert wird.
»Flugzeugnasen nach Norden gerichtet«
Israels Verteidigungsminister Joav Galant sagte, der größte Teil der israelischen Luftwaffe sei nicht mehr mit dem Gazastreifen beschäftigt. Die Flugzeugnasen seien nun nach Norden gerichtet. Die Bürger des Libanons müssten wissen: Wenn Hisbollah-Chef Hassan Nasrallah einen Fehler begehe, »das Schicksal Beiruts wie das Schicksal Gazas sein könnte«, sagte Galant.
Aus dem Gazastreifen reisten erneut Hunderte Ausländer und Palästinenser mit zweitem Pass aus. dpa/ja