Ist es möglich, angesichts der dramatischen Veränderungen in Syrien mehrere Empfindungen gleichzeitig zu haben? In der Berichterstattung über den Sturz des syrischen Diktators Bashar al-Assad überwog die Freude. Und warum auch nicht? Assad hat mehr als eine halbe Million seiner eigenen Landsleute auf dem Gewissen.
Die Hälfte der syrischen Bevölkerung musste im Laufe des Bürgerkriegs seit 2011 fliehen, mehr als sechs Millionen davon ins Ausland. Seine Folterkammern waren derart berüchtigt, dass die größte von ihnen – das Gefängnis Sednaya nördlich von Damaskus – den Beinamen »menschliches Schlachthaus« erhielt. Für Millionen Syrer war Assads Flucht nach Moskau das Ende eines Albtraums.
Doch bei aller Freude gibt es auch Grund zur Sorge. Die Assad-Dynastie, die Syrien seit fünf Jahrzehnten mit eiserner Faust regierte, ist zwar seit vergangenem Sonntag zu Ende. Aber was ihr folgt, weiß auch fast eine Woche später niemand. Die neuen Machthaber sind eine bunte Koalition von Aufständischen, die von einer Gruppe namens Hayat Tahrir al-Sham (HTS) – auf Deutsch: Komitee zur Befreiung Syriens – angeführt wird. Bis 2017 war diese Gruppe ein Ableger der Terrororganisation al-Qaida. Ihre Wurzeln sind dieselben wie die des Islamischen Staates (IS), und ihr Anführer Abu Muhammed al-Jolani begann seine »Karriere« vor über 20 Jahren als Dschihad-Kämpfer im Irak.
Möchte al-Jolani einen islamistischen Gottesstaat errichten? Viele Signale, die er in den vergangenen Monaten gesendet hat, klangen pragmatisch. Vom IS hat er sich distanziert, den zahlreichen Minderheiten in Syrien Schutz versprochen. Und für Frauen soll es – bis auf Weiteres – keinen Kopftuchzwang geben. Doch kann man solchen Zusagen trauen? Und wie diszipliniert werden seine Kämpfer, viele davon Dschihad-Veteranen aus aller Herren Länder, sie umsetzen? Dass das Ziel nach wie vor eine Form von Islamismus ist, machte der Chefideologe der Gruppe bereits 2021 klar. In einem Vortrag vor Mitstreitern erklärte er die politische »Vision« der Gruppe. Der Titel der Präsentation: »Dschihad und Widerstand in der islamischen Welt: Die Taliban als Vorbild«.
Der Fall Syrien zeigt, auf welch tönernen Füßen auch der Iran steht.
Das größte Problem für die neuen Machthaber hat nichts mit Islamismus zu tun. Wie in fast allen Bürgerkriegen sind nach Jahren des Konflikts zahllose Rechnungen offen. Assads Schergen in Militär, Geheimdiensten und lokalen Milizen haben ihre Gegner nach Belieben gefoltert und ermordet, ohne jemals zur Rechenschaft gezogen zu werden.
Im Gegenteil: Viele sind heute angesehene Mitglieder ihrer Gemeinschaften, insbesondere der alawitischen, der auch Assad angehört. Was passiert mit ihnen? Wird es Gerechtigkeit für die begangenen Verbrechen geben? Oder sind al-Jolani Stabilität und Versöhnung mit einstigen Feinden wichtiger?
Der Zweiklang aus Freude und Sorge dominiert auch die Reaktionen in Israel. Einerseits ist der Fall Assads natürlich eine gute Nachricht, denn der Machthaber war ein erbitterter Feind des jüdischen Staates, Verbündeter des Iran und enger Unterstützer der Hisbollah. Der Sturz seiner Diktatur schwächt die gesamte »Achse des Widerstands«, denn für den Iran wird es fortan schwieriger, Israel zu bedrohen und die Hisbollah im Libanon mit Waffen zu versorgen. Mehr noch: Die Tatsache, dass Teheran nicht in der Lage war, einen seiner wichtigsten Verbündeten an der Macht zu halten, demonstriert die Verwundbarkeit des Regimes.
Auf der anderen Seite bereitet Israel die neue Situation auch Sorge. Ein Wiederaufflammen des Bürgerkriegs ist möglich.
Egal, wer in Syrien in Zukunft regiert – von dem Land darf niemals mehr eine Gefahr für Israel ausgehen.
Trotz aller Schwierigkeiten: Assad war »der Teufel, den wir kennen«. Die neuen Machthaber dagegen sind eine unbekannte Größe. Sollten sie tatsächlich Dschihadisten sein, die früher oder später einen Konflikt mit Israel suchen, dann wäre der jüdische Staat erneut bedroht.
Genau aus diesem Grund führte Israel in der Nacht zum Dienstag eine beispiellose Luftkampagne gegen syrische Ziele durch. Das Ergebnis: Bis zu 80 Prozent des gesamten syrischen Militärs wurden innerhalb weniger Stunden zerstört. Die Botschaft war unmissverständlich: Egal, wer in Syrien in Zukunft regiert – von dem Land darf niemals mehr eine Gefahr für Israel ausgehen.
Freude und Sorge sind also zumindest in diesem Fall kein Widerspruch, sondern die Grundlage für eine vernünftige, an den Realitäten und Unwägbarkeiten der Region orientierten Politik. Und auch für eine dritte Emotion – nämlich Hoffnung – bleibt Raum. Die rasche Implosion des syrischen Regimes und Teherans Unfähigkeit, es zu stützen, sind auch innerhalb des Iran nicht unbemerkt geblieben. Bereits zuvor brodelte es im Land, doch nach dem Fall Assads ist deutlicher denn je, auf welch tönernen Füßen die Islamische Republik steht. Wie lange noch, bis auch die Iraner auf die Idee kommen, ihre Diktatur erneut herauszufordern?
Der Autor ist Professor für Sicherheitsstudien am Londoner King’s College.