Ist sie da, die dritte Intifada? Fliegende Steine, brennende Autoreifen, Tränengas, Hungerstreiks. Seit einigen Wochen schaukelt sich die Situation im Westjordanland immer weiter hoch. Einige Experten meinen, der Aufstand sei bereits in vollem Gange. Nach dem Tod des Palästinensers Arafat Jaradat am vergangenen Samstag in einem israelischen Gefängnis schwappten die gewalttätigen Proteste in weite Teile des Westjordanlandes über, Tausende Gefängnisinsassen verweigerten das Essen. Doch weder Jerusalem noch die Palästinensische Autonomiebehörde (PA) scheinen an einer Eskalation der Lage interessiert zu sein.
Palästinensische Behörden und Angehörige des Verstorbenen hatten den Vorwurf erhoben, dass Jaradat an den Folgen von Folter im Gefängnis von Megiddo gestorben sei. Die Israelis wiesen das zurück und erklärten, der Mann sei plötzlich an Herzversagen gestorben, die Blutergüsse und zwei gebrochene Rippen seien Folgen der Wiederbelebungsversuche der Sanitäter. Eine Obduktion im forensischen Institut Abu Kabir in Tel Aviv soll die genaue Todesursache feststellen. Die Familie des Toten und ihr arabischer Arzt dürfen dabei anwesend sein. Ministerpräsident Benjamin Netanjahu beauftragte zudem eine Untersuchung der Todesumstände.
Beerdigung Doch die Protestierenden wollen nicht warten, bis es eine offizielle Erklärung gibt. Für sie ist klar: »Israel hat den Mann auf dem Gewissen.« Mindestens 25.000 Menschen strömten am Montagmittag zur Beerdigung des zweifachen Vaters in seinem Heimatdorf Siir nahe der Stadt Hebron. Sie schwenkten die palästinensische Flagge und schrien Parolen. In Hebron selbst brodelt es bereits seit einigen Wochen. Immer wieder kommt es zu gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen demonstrierenden Palästinensern und dem israelischen Militär (IDF).
Autonomiepräsident Mahmud Abbas sagte direkt nach der Beerdigung: »Israel tötet unsere Kinder mit scharfen Waffen.« In der vergangenen Woche waren Vorwürfe gegen die IDF laut geworden, sie habe bei Auseinandersetzungen im palästinensischen Dorf Kusra auf Jugendliche und Verletzte mit scharfer Munition geschossen. Die Armee hatte jedoch erklärt, kein Soldat habe scharfe Munition verwendet.
Stattdessen wird vermutet, die jüdischen Siedler, die in die Auseinandersetzung verwickelt waren, hätten Schusswaffen benutzt. Abbas beschuldigte den jüdischen Staat, für den Ausbruch der Gewalt verantwortlich zu sein. Fügte dann jedoch mit Blick auf die palästinensischen Demonstranten hinzu: »Wir lassen sie kein Chaos im Westjordanland veranstalten. Wir lassen das nicht zu.«
Die israelischen Armee versucht nach eigener Auskunft alles, um die Spirale der Gewalt einzudämmen, und überlässt, soweit möglich, den palästinensischen Sicherheitskräften die Kontrolle. Der israelische Verantwortliche für Regierungsaktivitäten in den Palästinensergebieten, Eitan Dangot, telefonierte am Sonntag mehrmals mit Premierminister Salam Fayyad, und bat ihn inständig, die »Flammen der Gewalt zu löschen«. Auch Ministerpräsident Benjamin Netanjahu selbst wurde tätig, um die aufgepeitschte Stimmung zu beruhigen. Besonders im Hinblick auf den Besuch des amerikanischen Präsidenten Barack Obama im März will Netanjahue Ausschreitungen im Land vermeiden.
Zum einen schickte er durch seinen Gesandten Isaak Molcho eine klare Botschaft an Palästinenserpräsident Abbas: »Beende die Gewalt umgehend!« Zum anderen lässt Jerusalem Taten sprechen. Am Wochenbeginn wurden die Steuererträge der Palästinenser, die seit Ende Januar zurückgehalten wurden, an die Autonomiebehörde überwiesen. Ein klares Zeichen der Regierung. Möglicherweise werde Netanjahu sogar noch weitergehen, mutmaßen politische Analysten: Er könnte einige gefangene Fatah-Leute freilassen oder weitere Festnahmen von Demonstranten für eine Weile aussetzen.
Deeskalation In jedem Fall stehen die Zeichen auf Deeskalation. Und um jeden Preis sollen ein weiterer Tod und eine weitere Beerdigung vermieden werden. »Bloß nicht noch einen Märtyrer«, lautet die Devise in Regierungskreisen. Sicherheitsminister Avi Dichter erklärte im israelischen Armeeradio, dass Jerusalem große Vorsicht bei den Ausschreitungen walten lassen muss, denn die Palästinenser seien darauf aus, sich als Opfer darzustellen, bevor Obama im kommenden Monat die Region bereist. »Sie versuchen, uns in eine Situation zu zerren, in der es tote Kinder gibt«, so Dichter.
Doch so weit soll es nicht kommen. Auch palästinensische Offizielle äußerten ihren Willen, die Gewalt so schnell wie möglich unter Kontrolle zu bringen. Der einstige Sicherheitschef der PA, Jibril Rajoub, machte im israelischen Radio deutlich, dass er im Namen der gesamten Palästinenserführung spreche: »Es gibt keine Intention, das Blutvergießen zu schüren.« Jakov Peri, einstiger Chef des Inlandsgeheimdienstes Schin Bet und jetziges Knessetmitglied (Jesch Atid), glaubt den Worten Rajoubs. Peri meint, die Palästinenser seien tatsächlich nicht auf eine Eskalation aus. »Anders als in den Jahren zuvor wollen sie die Lage jetzt beruhigen. Und für Israel ist die Verständigung mit den Palästinensern existenziell.«
Wie sehr die Politiker bemüht sind, die Lage unter Kontrolle zu bringen, zeigt ein ungewöhnliches Beispiel vom Montag: Ein Palästinenser aus dem Dorf Kfar Kusra, der am Sonntag von einem jüdischen Siedler angeschossen worden war, wurde per Helikopter von einem Krankenhaus in Nablus zur besseren Behandlung in ein israelisches Hospital transportiert. Angeblich sollen auch zusätzliche israelische Sicherheitskräfte in die Gegend geschickt werden, um jegliche Aktionen von Siedlern zu unterbinden. Die würden im Augenblick nur weiteres Öl in die lodernden Flammen gießen und könnten das gesamte Westjordanland in einen gefährlichen Flächenbrand stürzen.