Impfgegner versuchen seit Monaten, den Nutzen von Corona-Impfstoffen herunterzuspielen. Ende August 2021 wird anhand der wieder steigenden Corona-Fälle in Deutschland erneut Stimmung gemacht. Unter anderem auf Facebook wird behauptet (archiviert), die Inzidenz sei am 23. August 2021 mehr als fünf Mal so hoch gewesen wie am gleichen Tag genau ein Jahr zuvor - und das, obwohl mittlerweile viele Menschen vollständig geimpft seien. »Massenexperiment gescheitert«, heißt es.
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Der Vergleich ergibt keinen Sinn, denn Pandemie-Wellen passieren nicht im Abstand von haargenau einem Jahr. Wissenschaftliche Untersuchungen zeigen ganz klar: Impfungen gegen das Coronavirus wirken. Treiber der aktuellen Corona-Inzidenz sind Ungeimpfte.
Fakten
Nach Angaben des Robert Koch-Instituts (RKI) stieg am 23. August 2021 die bundesweite Inzidenz tatsächlich auf 56,4 Neuinfektionen pro 100 000 Einwohnern innerhalb von sieben Tagen. Genau ein Jahr zuvor lag der Wert am 23. August 2020 bei 10,3. Diese Zahlen in der Grafik stimmen also. Ebenso ist die Impfquote richtig dargestellt: Am 23. August 2021 waren mehr als 49 Millionen Menschen in Deutschland vollständig geimpft - also rund 59 Prozent. Die Impfungen in Deutschland haben erst um den Jahreswechsel 2020/2021 begonnen.
Doch ist das nun tatsächlich ein Beweis dafür, dass die Impfungen nichts bewirken? Auf keinen Fall.
Erstens: Es ist eine irrige Annahme, dass Werte an zwei Tagen im Abstand von genau einem Jahr vergleichbar sein müssen. Pandemie-Wellen folgen keinem Kalender. Seit Entdeckung des neuen Coronavirus Ende 2019 in China ist Deutschland aktuell mit einer vierten Infektionswelle konfrontiert, wie das RKI mitteilt. Die früheren Wellen hatten ihre jeweils unterschiedlich hohen Rekordwerte an Neuinfektionen Mitte März 2020, Mitte Dezember 2020 und Mitte April 2021. Der Verlauf der Pandemie und Infektionszahlen ist dynamisch und hängt von mehreren Faktoren ab, wie Gegenmaßnahmen oder dem Verhalten und der Mobilität von Menschen.
Nach einem leichten Anstieg über den Sommer letzten Jahres ging nach dem 23. August 2020 die Inzidenz vorerst wieder etwas zurück, bevor sie dann ab Mitte September merklich stieg und zur zweiten Welle anwuchs. Hingegen lag der 23. August 2021 schon mitten im Anstieg der vierten Welle - also zu einem vergleichsweise viel späteren Zeitpunkt im Infektionsgeschehen. »Die Fallzahlen nehmen bereits seit Anfang Juli 2021 wieder zu und steigen damit wesentlich früher und schneller als im vergangenen Jahr, als vergleichbare Inzidenzen erst im Oktober erreicht wurden«, schreibt das RKI am 19. August 2021.
Zweitens: Man kann die aktuellen Werte grundsätzlich nicht mit früheren Wellen vergleichen, da ein entscheidender Faktor neu ist: der immer weiter gestiegene Anteil derjenigen in der Bevölkerung, die sich gegen das Coronavirus haben impfen lassen.
Natürlich können sich auch diejenigen infizieren, die bereits einen vollständigen Impfschutz haben. Denn wie alle Impfstoffe gegen bestimmte Krankheiten bieten auch die Corona-Mittel weder einen 100-prozentigen Schutz gegen eine Infektion noch gegen eine schwere Erkrankung. Die Gefahr dieser sogenannten Impfdurchbrüche war von Anfang an bekannt und frühzeitig kommuniziert worden.
Nach aktuellem Stand der Wissenschaft ist die Wahrscheinlichkeit, an Covid-19 zu erkranken, bei Menschen, die vollständig mit einem der beiden mRNA-Mittel (Biontech/Pfizer oder Moderna) geimpft sind, um etwa 95 Prozent geringer ist als bei Ungeimpften. Beim Impfstoff von Astrazeneca sind es bis zu 80 Prozent. Das Mittel von Johnson & Johnson schützt der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung zufolge mindestens zu 80 Prozent gegen eine schwere Erkrankung. Es wird davon ausgegangen, dass die Wirksamkeit nachlassen kann, wenn die Impfung schon lange zurück liegt oder die Betroffenen einer Risikogruppe angehören.
Im aktuell gemeldeten Infektionsgeschehen haben Geimpfte nur einen kleinen Anteil. Vor allem die knapp 40 Prozent der Menschen, die bis 31. August 2021 noch nicht vollständig gegen den Sars-CoV-2-Erreger geimpft waren, sind besonders gefährdet, sich anzustecken. Das zeigen die Analysen einiger Bundesländer, die mittlerweile die Inzidenz bei Geimpften und Ungeimpften separat ermitteln:
- Für Baden-Württemberg hat das Landesgesundheitsamt herausgefunden, dass am 26. August die Sieben-Tage-Inzidenz unter den Geimpften bei 10,1 Neuinfektionen lag, bei den Ungeimpften hingegen bei 122,5. Dass es bei der geschätzten Wirksamkeit der Impfstoffe von durchschnittlich 90 Prozent zu einigen Impfdurchbrüchen komme, sei normal, sagt der Chef-Virologe des Landesgesundheitsamts Baden-Württemberg, Stefan Brockmann, der Deutschen Presse-Agentur (dpa).
- In Bayern gab es am 25. August bei Ungeimpften eine Sieben-Tage-Inzidenz von knapp 110,6 pro 100 000 Einwohner, wie das Landesgesundheitsministerium mitteilte. Bei Geimpften lag der Wert bei etwa 9,2. »Wir haben derzeit eine Pandemie der Ungeimpften«, sagte Bayerns Gesundheitsminister Klaus Holetschek seinerzeit.
- Hamburgs Bürgermeister Peter Tschentscher (SPD) teilte am 24. August mit, dass die Sieben-Tage-Inzidenz in der Hansestadt bezogen auf die Gesamtbevölkerung bei Ungeimpften bei 78,1 liege, bei Geimpften aber nur bei 3,4.
Die Zahl der Corona-Fälle unter Geimpften verunsichert dennoch viele Menschen. Allerdings ist dies für die Wissenschaft kein überraschendes Phänomen. »Wir wussten von Anfang an, dass die Impfung nicht zu 100 Prozent wirksam ist«, erklärt Carsten Watzl, Immunologe am Leibniz-Institut für Arbeitsforschung der Technischen Universität Dortmund, der dpa. »Selbst in den Zulassungsstudien [der Impfstoffe] hatten sich vollständig Geimpfte infiziert.«
Derartige Infektionen sind kein Zeichen dafür, dass die Spritzen nicht wirken. Der Infektionsimmunologe Leif Erik Sander von der Berliner Charité betont: Das Risiko, schwer zu erkranken, sei bei vollständig Geimpften bedeutend kleiner.
Das zeigt auch der jüngste RKI-Wochenbericht vom 26. August 2021: Über einen Zeitraum von etwa vier Wochen (Kalenderwochen 30 bis 33) waren mehr als 90 Prozent der Corona-Patienten in den Krankenhäusern und auf den Intensivstationen nicht vollständig gegen das Coronavirus geimpft.
Und mit Blick auf die Geimpften zeigte etwa eine Studie aus Israel Anfang Juli, dass von 152 Patienten, die trotz Impfung an Covid-19 erkrankten, nur 6 zuvor gesund waren. Alle anderen hatten zum Teil schwere Vorerkrankungen, darunter Bluthochdruck, Diabetes, chronisches Nierenversagen, Krebs sowie Herz- oder Lungenleiden. Ein weiterer Faktor war ein geschwächtes Immunsystem, zum Beispiel aufgrund einer Organtransplantation oder einer Chemotherapie.
Noch ein Wort zum Begriff »Massenexperiment«, der im Facebook-Post mit der Falschbehauptung aufgegriffen wird: Dieser erweckt den Eindruck, die in Europa und Deutschland eingesetzten Impfstoffe seien nicht grundlegend geprüft worden. Auch das ist nicht richtig.
Zum Beispiel erhielten die ersten mRNA-Impfstoffe bereits Ende Dezember 2020 und Anfang Januar 2021 von der Europäischen Union ihre Zulassung. Die Pharmaunternehmen Biontech und Moderna hatten damals ihre entscheidenden Phase-III-Studien über die Wirksamkeit bereits abgeschlossen. Diese Daten prüfte die Europäische Arzneimittelbehörde (EMA) in einer umfassenden wissenschaftlichen Bewertung vor der Zulassung. Mittlerweile sind Dutzende Studien zur Wirksamkeit der Impfstoffe erschienen.
EU-weit waren nach Angaben der EU-Gesundheitsbehörde ECDC Ende August mehr als 250 Millionen Menschen vollständig gegen das Coronavirus geimpft.
Links
ECDC-Dashboard zur Zahl der Impfungen
RKI-Lagebericht vom 23.8.2021 (archiviert)
RKI-Lagebericht vom 23.8.2020 (archiviert)
RKI-Lagebericht vom 31.8.2021 (archiviert)
RKI-Wochenbericht vom 26.8.2021 (archiviert)
RKI-Wochenbericht vom 19.8.2021 (archiviert)
Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung über Impfstoffe (archiviert)
Paul-Ehrlich-Institut u.a. über Wirksamkeit der Impfstoffe vom April 2021 (archiviert)
Inzidenz in Baden-Württemberg/Brockmann (archiviert)
Bayerisches Gesundheitsministerium über Inzidenz am 25.8.2021 (archiviert)
Tschentscher über Corona-Zahlen in Hamburg (archiviert)
Watzl/Sander in dpa-Berichterstattung (archiviert)
Studie aus Israel über Impfdurchbrüche (archiviert)
dpa-Meldung über EU-Impfstoff-Zulassung vom 06.1.2021 (archiviert)
Biontech/Pfizer über Phase-III-Studie vom 18.11.2020 (archiviert)
dpa-Bericht Impfstoff-Prüfung der EMA vom 2.12.2020 (archiviert)