Ofir hatte Probleme, sich in der Schule zu konzentrieren, Hausaufgaben konnte er nur schwer selbst erledigen. Die Diagnose: Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom (ADS). Nun schluckt er jeden Morgen eine kleine Pille und die Schwierigkeiten sind wie weggezaubert. Allheilmittel Ritalin? Wenn es nach vielen Israelis geht, dann ist der Wirkstoff Methylphenidat tatsächlich Hilfe für fast jedermann. Jetzt hat die Medizinische Gesellschaft Israels Ritalin sogar von der Liste für Arzneien mit besonderer Verschreibungspflicht genommen. Jeder, der will, kann das Medikament ab sofort einwerfen – ohne die Angabe von Gründen.
Vergabepraxis Bisher war die Vergabe an besondere Diagnosen und spezielle Tests gebunden. Ausschließlich Psychiater, Neurologen sowie Kinderärzte mit spezieller Qualifikation durften ein Rezept bei ADS oder Hyperaktivität ausstellen. Nun können es alle, auch Hausärzte. Doch bereits eine Studie aus dem vergangenen Jahr stellte fest, dass zu viele Kinder Ritalin oder das ähnlich wirkende Concerta bekommen.
Die Untersuchung, geleitet von Kinderarzt Schlomi Antebi, kam zu dem Ergebnis, dass 13,5 Prozent der kleinen Patienten diese Mittel nicht erhalten müssten und in acht Prozent der Fälle die Pillen ihre Wirkung sogar gänzlich verfehlten. Andere Krankheitssymptome würden wegen der Medikation oft nicht erkannt und behandelt. Schätzungen in Fachkreisen gehen davon aus, dass bereits mehr als zwei Prozent der israelischen Kinder und Jugendlichen Ritalin erhalten. Jährlich kommen etwa 35.000 neue Verschreibungen hinzu.
Dennoch erklärte das ethische Komitee der Medizinischen Gesellschaft, dass nun sogar Menschen ohne jegliche Diagnose von Störungen Ritalin einnehmen können. »Jeder hat das Recht, das Beste aus sich herauszuholen, so lange es andere nicht gefährdet oder verletzt«, erklärte Avinoam Reches, Vorsitzender des Ethikkomitees.
Auch wenn eine Person nicht unter dem Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom leide, sei Ritalin erlaubt, sofern es die Konzentration verbessert. Dasselbe gelte für Medikamente, die das Gedächtnis fördern. »Helfen sie Leuten mit etwas geschwächten kognitiven Fähigkeiten, gibt es keinen Grund, sie ihnen nicht zu geben.« Allerdings, betonte Reches, müssten diese Menschen das Ritalin aus eigener Tasche zahlen.
Studenten Rechtzeitig zu den Zwischenprüfungen an den Universitäten können sich Studenten nun mit den Psychostimulanzien ohne ärztliche Begleitung durch Klausuren, Tests und Examen hangeln.
Schon jetzt ist es ein offenes Geheimnis, dass in Studentenkreisen Ritalin und Medikamente für die Alzheimer-Behandlung unter den Tischen gehandelt werden. Es kursiert der Irrglaube, man werfe mal eben eine Pille ein, laufe kurzzeitig auf Hochtouren, und nach dem Absetzen sei wieder alles beim Alten.
Dabei steht im Beipackzettel von »Ritalin 10mg«: »Bei plötzlichem Absetzen können ein erhöhtes Schlafbedürfnis, Heißhunger, Verstimmungen, Depression, psychotische Reaktionen und Kreislaufstörungen auftreten. Beim Absetzen wird eine sorgfältige Überwachung empfohlen. Manche Personen benötigen eine langfristige Nachbetreuung«.
In Deutschland beschäftigen sich bereits Drogenbeauftragte mit Möglichkeiten, die Verschreibung einzudämmen. Grund sei vor allem der Blick in die USA, wo Ritalin bereits auf den Straßen als »Kinderkoks« gehandelt werde. Die Website medizin.de erläutert: »Methylphenidat verändert wie alle Amphetamine die Verarbeitung von Sinneseindrücken im Gehirn, das Schlucken von übermäßigen Dosen erzeugt wohl kaum körperliche, dagegen starke psychische Abhängigkeit. Schon nach kurzzeitigem Missbrauch können psychotische Zustände mit optischen Halluzinationen auftreten.«
Nebenwirkungen Genau diese medizinischen Fakten beunruhigen israelische Experten. Professor Esther Schohami vom pharmakologischen Institut der Hebräischen Universität in Jerusalem meint, die Entscheidung der Medizinischen Gesellschaft sei gefährlich. Zwar sei das Medikament gut für Kinder, die es tatsächlich benötigten, bei anderen aber könne es den gegenteiligen Effekt haben: Überstimulation. »Es gibt bereits Fälle, in denen junge Leute mit psychotischen Anfällen in den Notaufnahmen der Krankenhäuser landen.
Und nachher stellen die Ärzte fest, dass sie auf Ritalin sind.« Menschen, die das Medikament tatsächlich brauchen, liefen weniger Gefahr, dass Nebenwirkungen auftreten, so Schohami. »Bei solchen, die es nur nehmen, um ihre Leistung zu steigern, sei es aber möglich, dass ungewollte Dinge hochkommen, die in ihnen verborgen sind.« Zudem könne die chemische Substanz eine Abhängigkeit fördern.
Sigalit Levy ist Mutter. Ihr 15-jähriger Sohn nahm drei Jahre lang täglich Ritalin nach der Diagnose Hyperaktivität. Bis sie »Stopp!« sagte. Zwar seien seine Schulleistungen in dieser Zeit besser gewesen als vor- und nachher, doch alles andere litt. »Er war oft lustlos und verstimmt, so als hätte er Depressionen, das war wirklich beängstigend«, erzählt Levy.
Der Teenager sei einfach nicht mehr er selbst gewesen. »Seine Zensuren waren es mir an einem Punkt einfach nicht wert, dass sich seine Persönlichkeit auf diese Weise verändert. Überhaupt ist es ein falsches Signal, Kindern zu vermitteln, sie können nur dann etwas leisten, wenn sie Tabletten einwerfen.«