Tel Aviv

Im Zeichen der Trikolore

Gedenken auf dem Rabin-Platz in Tel Aviv. Foto: Flash 90

Auf dem Dach des Institut Français am Rotschild-Boulevard Ecke Herzlstraße in Tel Aviv wehen die Fahnen auf Halbmast. Unten im Gebäude strömt köstlicher Duft frischer Backwaren durch das Bistro »Da Da & Da«. Hier gibt es, so sagt man, die besten Croissants der Stadt – fast so gut wie in Paris. Zwei Tage nach den erschütternden Nachrichten aus Frankreich ist die lebenslustige Stimmung in dem Bistro gedämpft, die Musik leiser als gewöhnlich. Israel trauert nach den tödlichen Attacken vom Freitag mit Frankreich.

Die junge Pariserin Martine Durand sitzt an der Theke und rührt in ihrem Café au lait. »Ich kann es nicht fassen, etwas in mir weigert sich noch immer, es zu glauben. Eine Freundin von mir wohnt um die Ecke vom Club Bataclan. Ich bin ständig in der Gegend«, erzählt sie, während sich ihre Augen mit Tränen füllen. Ihre Lieben seien alle in Ordnung, so die Touristin, die zwei Wochen Ferien bei einer Freundin in Israel macht. »Aber viele sind nicht okay – und sie werden es nie mehr sein. Das ist so unendlich schrecklich.«

Martine erzählt, dass sie nach den Terroranschlägen ernsthaft in Erwägung zieht, Alija zu machen. »Vorher habe ich nie daran gedacht. Ich komme zwar jedes Jahr nach Israel, doch ich liebe Paris, es ist meine Stadt. Aber ob ich da jetzt noch leben kann, weiß ich nicht.«

Solidarität Am Samstagabend nach den grausamen Terroranschlägen, bei denen mindestens 130 Menschen ermordet wurden, steht auch die französische Gemeinde in Israel unter Schock. Hunderte versammeln sich spontan vor dem Rathaus auf dem Rabin-Platz, um ihre Solidarität mit den Opfern und ihren Angehörigen auszudrücken. Das Verwaltungsgebäude erstrahlt in den Farben der Landesflagge in Blau-Weiß-Rot. Davor stehen vor allem junge Leute, viele halten einander an den Händen und weinen.

Einige haben auf die Schnelle Schilder gemalt. »Tel Aviv stands with Paris«, steht auf einem. Ein Eiffelturm als Friedenszeichen ist auf einem anderen zu sehen. Manche haben Gedenkkerzen mitgebracht und formen daraus das Wort Paris auf dem Boden.

Die Menschen sind auf Einladung des französischen Botschafters in Israel auf den Platz gekommen. Patrick Maisonnave sagt, ihre Anwesenheit sei der Beweis, dass Frankreich nicht allein sei in seinem Kampf. Er spüre die Liebe, die von den Israelis ausgehe und in Richtung Paris fließt: »Lasst uns vereinen in Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit.«

Auch viele israelische Politiker sind an diesem Abend da, darunter der Innenminister Silvan Shalom, Oppositionsführer Isaac Herzog, der die Brüderlichkeit mit den Franzosen beschwört und Paris als »ewige Stadt des Lichts« bezeichnet. Alt-Präsident Schimon Peres ist ebenfalls gekommen, um zu den Menschen zu sprechen – in Hebräisch und Französisch: »Euer Krieg ist unser Krieg. Eure Werte sind unsere Werte. Dies sind die Werte der aufgeklärten Welt.« Er dankt Frankreich, das in schweren Stunden immer zu Israel gestanden habe und verspricht, nun dasselbe zu tun.

Julie Lafitte hört ihm aufmerksam zu. Die 28-Jährige ist vor zwei Jahren nach Israel eingewandert und lebt heute in Netanja. In der Küstenstadt haben sich viele französische Juden niedergelassen. Julie ist mit ihrem israelischen Lebensgefährten auf den Rabin-Platz gekommen. Der hält fest ihre Hand. »Dieser Terror erschüttert die westliche Welt in ihren Grundfesten«, ist Julie überzeugt. »Mit den Anschlägen, die so unglaublich abscheulich und irrsinnig sind, ist manifestiert, dass wir nirgends mehr sicher sind. Nicht nur wir Juden, sondern wir alle, die wir das Leben und die Freiheit lieben.«

Sie sagt, ihr Sicherheitsgefühl sei mit diesem schwarzen Tag zerstört worden. »In Frankreich bin ich als Jüdin und Französin nun doppelt Zielscheibe. Und in Israel sind wir sowieso ständig unter Beschuss.« Trotzdem lebe sie lieber in Israel, weil sie sich in einem jüdischen Staat inmitten von Juden etwas mehr in Sicherheit wähne. »Israel fühlt sich einfach mehr als Heimat an als jedes andere Land.«

Alija Die Jewish Agency erwartet nach dem Terror einen erheblichen Anstieg der Einwanderungszahlen. Aber noch sei es viel zu früh für Spekulationen, sagt ein Sprecher. Man werde allerdings verstärkt in Frankreich über die Möglichkeiten der Alija informieren. In den ersten neun Monaten dieses Jahres wanderten 6003 Juden aus Frankreich nach Israel ein, bis zum Jahresende werden es schätzungsweise 1.500 weitere sein. Die Zahlen haben sich innerhalb von drei Jahren mehr als verdoppelt.

Die meisten Immigranten geben als Gründe zunehmenden Antisemitismus in Europa, vor allem durch die wachsenden muslimischen Gemeinden in ihrer alten Heimat, sowie den Wunsch nach einer jüdischen Umgebung für ihre Kinder an.

Auch der Mann mit der Israelfahne in der Hand hat vor einigen Jahren mit seiner Familie Alija gemacht und wohnt heute in Tel Aviv: Didier Cohen aus Marseille. »Das war die beste Entscheidung meines Lebens. Auch wenn ich manchmal mit dem alltäglichen Leben in Israel hadere, jetzt weiß ich, es ist der einzige Weg für uns Juden.«

In Marseille habe er sich schon lange vor seiner Auswanderung nicht mehr wohlgefühlt. »Es gibt sehr viele Muslime dort, und ich habe gespürt, dass es nicht mehr lange gut geht. Ich will keine schrecklichen Prophezeiungen von mir geben, aber irgendwann richtet es sich wieder gegen die Juden, da bin ich mir sicher. Nur im jüdischen Staat können wir uns als Bürger aufeinander verlassen.«

Europa Cohen stimmt mit jenen überein, die meinen, die islamistische Bedrohung könne man nur mit totaler Härte eindämmen. »Israel hat das schon lange begriffen. Deshalb lebe ich hier. Auch wenn nicht immer alles perfekt ist, so weiß man hier doch, wie man mit dieser Pest umgehen muss.« Vielleicht verstehe jetzt auch Europa, was Terrorismus bedeute und was die Islamisten vorhätten, sinniert der Immobilienmakler düster.

»Wenn wir überleben wollen, muss Schluss sein mit der politischen Korrektheit – wir müssen jetzt zusammen und entschlossen gegen die Islamisten vorgehen. Oder wir gehen alle unter«, schreit er fast, als die Menge um ihn herum spontan die Marseillaise anstimmt.

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