Es war eine Reise, die bis zuletzt unter dem Vorbehalt der aktuellen Entwicklungen in der Ukraine stand. Sie war lange vor Beginn des Krieges geplant. Seit seinem Amtsantritt vor knapp drei Monaten war Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) bereits zu Antrittsbesuchen in Paris, Brüssel, Warschau, Rom, Madrid, Washington, Kiew und Moskau.
Nun also Jerusalem. Am Dienstagabend traf Scholz in Israel ein, am Mittwochmorgen besuchte der Kanzler zunächst Yad Vashem. Dort wurde er von Ministerpräsident Naftali Bennett begrüßt. Nach einem gemeinsamen Rundgang durch das Museum und einer Kranzniederlegung in der Halle der Erinnerung trug sich Scholz ins Gästebuch der Holocaust-Gedenkstätte ein.
Dort schrieb er: »Das Menschheitsverbrechen der Schoa ließ die Welt in den Abgrund blicken. Der Massenmord an den Juden ging von Deutschland aus. Er wurde von Deutschen geplant und ausgeführt.« Hieraus erwachse einer jeden deutschen Regierung die immerwährende Verantwortung für die Sicherheit des Staates Israel und den Schutz jüdischen Lebens. »Wir werden das millionenfache Leid und die Opfer niemals vergessen!«
ERINNERUNG Bennett dankte Scholz, dass die erste Station seines ersten Israel-Besuches mit der Jerusalemer Holocaust-Gedenkstätte zugleich die wichtigste Station ist. Der Holocaust, die systematische Vernichtung von Juden, liege »den bedeutungsvollen, starken und festen Beziehungen« beider Länder zugrunde. Auch 80 Jahre nach dem Krieg gebe es keinen Juden, der nicht tief im Innern die Erinnerung an die sechs Millionen ermordeten Juden im Herzen trage. An Scholz gewandt, sagte Bennett: »Ich danke Ihnen für den Einsatz zur Erinnerung an den Holocaust und für Ihr Engagement für das jüdische Volk.«
»Ich danke Ihnen für den Einsatz zur Erinnerung an den Holocaust und für Ihr Engagement für das jüdische Volk.«
Israels Premier Naftali Bennett
Später kamen die beiden Regierungschefs zu einem Gespräch unter vier Augen zusammen. Bei der anschließenden gemeinsamen Pressekonferenz kündigten sie an, dass Deutschland und Israel eine neue strategische Zusammenarbeit aufnehmen wollen. »Das ist ein Format des Dialogs, der zweimal im Jahr stattfinden soll«, sagte Bennett. Scholz betonte: »Das ist eine ganz wichtige Weiterentwicklung unserer Beziehungen.« Er habe das israelische Kabinett zu Regierungskonsultationen nach Berlin eingeladen: »Ich bin froh darüber, eine Zusage bekommen zu haben.« Beide Seiten wollten auch die Gründung eines deutsch-israelischen Jugendwerks voranbringen.
Er habe mit Scholz ein »tiefes Gespräch« über die Lage in der Ukraine geführt, sagte Bennett weiter. »Es ist unsere Pflicht, alles zu unternehmen, um das Blutvergießen zu beenden.« Verhandlungen zwischen Russland und der Ukraine seien weiter ein Ziel. »Es ist noch nicht zu spät.« Auf der Basis der israelischen Kriegserfahrungen müsse er aber zu der Lage in der Ukraine sagen: »Es kann leider noch viel schlimmer kommen.« Auch Scholz zeigte sich besorgt über die weitere Entwicklung des Konflikts: »Ich will nochmals dazu aufrufen, dass alle Kampfhandlungen sofort eingestellt werden.«
Bennett sagte zudem, Israel verfolge mit Sorge die internationalen Gespräche mit dem Iran in Wien. Israel werde es dem Iran nicht erlauben, nukleare Waffen zu erzielen und erwarte dabei auch die Unterstützung seiner Verbündeten. Scholz versicherte, Deutschland nehme die israelischen Sicherheitsbedenken ernst. »Wir müssen verhindern, dass der Iran an Atomwaffen gelangt. Das ist es, worum es zu allererst geht, weil das eine große Bedrohung wäre für den Frieden.« In Wien müsse es jetzt eine Entscheidung geben. »Das darf nicht weiter aufgeschoben werden.«
Zu den israelisch-palästinensischen Beziehungen sagte Scholz: »Da sind in den letzten Monaten Schritte unternommen worden von der israelischen Regierung, um die Zusammenarbeit und die Lebensbedingungen vor Ort zu verbessern, das begrüße ich ausdrücklich. Um eine erneute Eskalation zu vermeiden, ist es wichtig, dass es zu sichtbaren Fortschritten kommt.« Eine nachhaltige Lösung könne nur in der Zweistaatenlösung liegen, betonte der Bundeskanzler.
FREUNDSCHAFT Am Mittag kam Scholz mit Yair Lapid zusammen. Israels Außenminister schrieb anschließend auf Twitter, an Scholz gerichtet: »Die Tatsache, dass Sie in solch chaotischen Zeiten Israel besuchen, beweist, dass die Freundschaft zwischen unseren Völkern sogar in einer sehr instabilen Welt, die in den vergangenen Tagen noch instabiler geworden ist, stabil und fest ist.«
Anschließend fand in der Knesset eine Unterredung mit Parlamentspräsident Mickey Levy statt. Am Nachmittag flog Bundeskanzler Scholz zurück nach Berlin.
Bei den politischen Gesprächen standen bilaterale Fragen an, die deutsch-israelischen Beziehungen, der enge Austausch in Wirtschaft, Wissenschaft und Kultur. Auch erörterten beide Seiten ihre unterschiedlichen Standpunkte zum Friedensprozess im Nahen Osten.
Aber im Vordergrund stand der Krieg in der Ukraine. Deutschland und Israel betrachten die Entwicklung mit gleicher Sorge, aber aus verschiedenen Perspektiven.
Israel hat gute Beziehungen zu beiden Ländern, zur Ukraine und Russland. Die Regierung versucht einen Balanceakt. Israel will seinen wichtigsten Bündnispartner, die USA, nicht verärgern, ist aber gleichzeitig aus strategischen Gründen vom Wohlwollen Moskaus abhängig, unter anderem in den Konflikten mit Syrien und dem Iran.
Israel war Medienberichten zufolge als Vermittler im Gespräch, der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj soll Bennett am Freitag gebeten haben, in Israel Verhandlungen zwischen Russland und der Ukraine auszurichten. Bennett telefonierte am Sonntag mit Kremlchef Wladimir Putin. Er habe eine Vermittlerrolle angeboten, «um die Feindseligkeiten auszusetzen».
Deutschland und Israel betrachten die Entwicklung in der Ukraine mit gleicher Sorge, aber aus verschiedenen Perspektiven.
Eine Lieferung von Waffen und militärischen Gütern nach Kiew hat die Regierung in Jerusalem abgelehnt. Hingegen wurde offiziellen Angaben zufolge am Dienstag mit dem Transport humanitärer Hilfsgüter begonnen: medizinische Ausrüstung, Geräte zur Wasseraufbereitung, Zelte, Decken und Schlafsäcke.
Deutschland hat gemeinsam mit den NATO-Partnern und den USA klar Position bezogen: harte Sanktionen gegen Russland, Waffen für die Ukraine.
KEHRTWENDE Dies wird in Israel aufmerksam verfolgt, wie auch die Kehrtwende in der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik, die die Bundesregierung als Reaktion auf die russische Aggression gegen die Ukraine angekündigt hat. Auch israelische Medien haben berichtet, dass der Kanzler 100 Milliarden Euro zusätzlich für die Bundeswehr ausgeben und künftig jährlich mehr als zwei Prozent des Bruttoinlandsproduktes in Verteidigung investieren will. So wird Scholz bei den Gesprächen möglicherweise auch das Interesse an modernen Rüstungsgütern aus Israel bekunden. Scholz hatte bereits in Berlin die Anschaffung bewaffneter Drohnen für die Bundeswehr in Aussicht gestellt.
Eine Lieferung von Waffen und militärischen Gütern nach Kiew hat die Regierung in Jerusalem abgelehnt.
Die neuen Töne des sozialdemokratischen Kanzlers in der sicherheitspolitischen Debatte wurden in Jerusalem bestimmt registriert. Wie beispielsweise auch die des SPD-Chefs Lars Klingbeil, der als Reaktion auf den Angriff Russlands auf die Ukraine ein Umdenken in der Sicherheitspolitik forderte: »Wir brauchen einen anderen, einen abschreckenderen Umgang mit autoritären Staaten.«
In diesem Sinne werden die israelischen Gesprächspartner wohl auch im Hinblick auf das Atomprogramm und die gegen den jüdischen Staat gerichteten Vernichtungsdrohungen des Iran eine klarere Haltung Deutschlands einfordern. »Wenn die Welt immer dunkler und gefährlicher wird, erkennen wir alle zunehmend die Bedeutung von Stärke«, sagte Bennett am Dienstag mit Blick auf den Ukraine-Krieg.
Auch dies macht deutlich, dass der Antrittsbesuch des Bundeskanzlers, der vor dem Hintergrund der deutschen Geschichte in Israel immer eine besondere Bedeutung hat, im Zeichen einer neuen Realität steht. Am Sonntag hat der Kanzler im Bundestag von einer »Zeitenwende« gesprochen. An diesem Mittwoch findet der Besuch in Jerusalem in dieser neuen Zeit – im Schatten eines Krieges in Europa – statt. (mit dpa)