Frau Lot hält Wache. Einige Meter hinter der berühmten Salzsäule aus der biblischen Geschichte, die eingefroren in der Zeit im Berg Sodom oberhalb des Toten Meeres steht, versteckt sich ein unscheinbarer Eingang. Auf allen Vieren muss man kriechen, um ins Innere zu gelangen. Doch es lohnt sich: Dahinter verbirgt sich die längste Salzhöhle der Welt auf mehr als zehn Kilometern mit Kammern, gewundenen Gängen und Schächten. Die israelische Malcham-Höhle bricht damit den Rekord, den bisher der Iran hielt.
13 Jahre lang galt die Höhle »Three Nudes« auf der Insel Qeshm mit sechseinhalb Kilometern als längste Höhle der Erde aus Natriumchlorid. Doch zwei internationale Expeditionen, geleitet vom Höhlenforschungszentrum (CRC) der Hebräischen Universität in Jerusalem und dem »Israel Cave Explorer Club« (ICEC), kartografierten die unterirdischen Gänge der Malcham-Höhle neu und kamen zu dem erstaunlichen Ergebnis, dass sie insgesamt mehr als zehn Kilometer messen. 80 Teilnehmer aus neun Ländern nahmen teil, darunter aus Deutschland, Bulgarien, Rumänien und Frankreich.
Bis dato galt die Salzhöhle auf der iranischen Qeshm-Insel als die größte der Welt.
Lecktest Auf den ersten Blick sieht es aus wie gewöhnlicher Fels in verschiedenen Beige- und Grautönen. Auf den zweiten auch noch. Erst wenn man ganz genau hinschaut, sieht man, dass es gar kein Stein ist. Im Schein der Taschenlampe funkeln und schimmern die Kristalle an der Decke, den Wänden, auf dem Boden.
»Die gesamte Höhle besteht zu fast 100 Prozent aus reinem Kochsalz«, bestätigt Boaz Langford, Leiter der Expedition des CRC. »Sie ist nur mit einigen Verunreinigungen aus Muschelsediment und Fels durchzogen.« Der Chef des ICEC, Yoav Negev, macht sogleich den »Lecktest« an einer rechteckigen Säule und bestätigt den Befund: »Damit konnte Frau Lot jede Menge Spaghetti salzen.«
Da man Salz keiner Radiokarbon-Altersbestimmung unterziehen kann, zogen die Wissenschaftler organische Überreste heran, die sie in den Spalten der Salzfelsen fanden, zum Beispiel ein Stück eines Eichenastes. Sie schätzen das Alter der Höhle auf rund 7000 Jahre, was sie zu einem jungen Exemplar in der unterirdischen Welt macht.
Die Höhle am Toten Meer wächst durch Regenfälle bis heute weiter.
Lasergeräte Völlig neu entdeckt wurde sie nicht. Professor Amos Frumkin, Leiter des CRC am Zentrum für Geowissenschaften, fand sie bereits Mitte der 80er-Jahre. Damals jedoch war er davon ausgegangen, dass sie nicht viel länger sei als fünfeinhalb Kilometer. Langford erklärt, warum: »Seinerzeit hat man Höhlen mit einem Maßband vermessen. Damit war es aber nicht möglich, jeden Gang, jedes Fenster und jede Verwinkelung aufzulisten.« Heute werde mit Lasergeräten gemessen, die sogar in die kleinsten Ecken reichen und sämtliche Daten sofort auf ein digitales Tablet übertragen. In jeder Halle war ein Team der Expedition damit beschäftigt, alles aufzunehmen.
»Doch danach hört die Arbeit nicht auf«, fügt Negev hinzu. »Jeden Abend treffen sich alle Teilnehmer und fügen ihre gesammelten Werte zusammen. Nur so gibt es am Ende ein stimmiges Bild mit korrekten Daten.« Efraim Cohen vom CRC, auch er bei der Expedition dabei, sagt, dass Höhlenvermessung zwar ein Abenteuer ist, aber auch harte Arbeit.
»Es ist wie auf einem anderen Planeten. Man ist zehn Stunden unter Tage, kriecht durch rutschige Salzkanäle und muss immer aufpassen, dass man die zerbrechlichen Stalagtiten und Stalagmiten aus Salz nicht beschädigt.« Die Arbeit sei noch nicht komplett abgeschlossen, es gebe noch mehrere enge Wege, die nicht vermessen sind. »Wenn wir die haben, ist es sehr wahrscheinlich, dass wir zu unseren imposanten zehn Kilometern sogar noch einige 100 Meter hinzufügen können.«
Schönheit Doch schon jetzt geht es nicht nur um die Länge, sondern auch um die einzigartige Schönheit der unterirdischen Welt. In vielen der Kammern und Gänge hängen salzige Stalagtiten wie Dekorationen von der Decke, sind fantastische Gebilde auf dem Boden entstanden. Viele von ihnen wachsen noch weiter, rund einen Zentimeter pro Jahr. Vorbei an zwei massiven Wandplatten, von den Forschern »Moses’ Gesetzestafeln« getauft, geht es über steile Kletterpfade und rutschige Abhänge zum Höhepunkt: der »Hochzeitshalle«. An der Decke hängen dicht an dicht meterlange Stalagtiten nebeneinander und verströmen eine magische Atmosphäre.
Wasser aus einer Quelle an der Oberfläche fließt durch Risse in den Untergrund, löst das Salz auf und bildet dabei Hohlräume.
Sodom, ein elf Kilometer langes Gebirge am südlichen Zipfel des Toten Meeres, liegt rund 170 Meter unterhalb des Meeresspiegels. Unter einer dünnen, undurchlässigen Deckschicht aus Gestein besteht alles aus Salz. Professor Frumkin erklärt, wie die Höhle entstand: »Wasser aus einer Quelle an der Oberfläche fließt durch Risse in den Untergrund, löst das Salz auf und bildet dabei Hohlräume. Nach dem Trocknen des Wassers bleibt die Höhle zurück.«
Dieses Naturphänomen existiert in Wüsten mit salzigen Gebirgen, wie der Atacama in Chile, auf der Insel Qeshm im Iran oder hier am Toten Meer. Geologisch gesehen sind Salzhöhlen lebendige Gebilde. »Malcham wächst auch heute noch weiter. Etwa einmal im Jahr, wenn starke Regenfälle über dem Berg Sodom herabgehen und durch die Höhle rauschen, wird sie weiter ausgehöhlt und damit größer.«
Auf die Frage, ob die Höhlenforscher besondere Genugtuung empfinden, gerade den Iran überholt zu haben, weisen sie jeglichen politischen Aspekt von sich. »Wir alle sind Forscher und freuen uns über jede große Entdeckung«, sagt Cohen. »Wenn Wettbewerb mit dabei ist, dann nur ein freundlicher. Aber natürlich ist es ein tolles Gefühl, einen neuen Rekord aufzustellen.« Einen, auf den Frau Lot persönlich aufpasst.